Der U-Bahnmörder Gilgamesh


„Der Mann dort vorne“, rief Lord Labskaus aufgeregt, „ist der steckbrieflich ge­suchte U-Bahnmörder Gilgamesh! Ich bin mir absolut sicher!“

Sie standen auf dem Bahnsteig und warteten auf den nächsten Zug der Linie U2.

„Und wenn schon“, winkte sein Begleiter, der Duke of Durian, müde ab. „Was geht uns kleine verarmte Landadelige ein U-Bahnmörder an?“

Lord Labskaus schlug sich unter­nehmungslustig mit der linken Faust in die ausgestreckte rechte Hand: „Wir müs­sen ihn jagen und fangen! Dann kassieren wir die Belohnung, die auf ihn aus­gesetzt ist, und kaufen von dem Geld unsere Landsitze zurück!“

„Die Summe wird niemals reichen“, zeigte sich der Duke of Durian weiterhin skeptisch. „Wozu also die Mühe?“

„Gilgamesh ist ein sehr gefährlicher Mörder“, erklärte Lord Labskaus. „Die Höhe der Belohnung ist astronomisch.“

„Nun gut“, gab Durian endlich nach. „Versuchen wir es eben. Jagen wir ihn! Wie mordet Gilgamesh eigentlich?“

„Das erkläre ich Ihnen später“, sagte Lord Labskaus. „Die Bahn fährt gerade ein. Wir dürfen ihn nicht aus den Augen verlieren.“

Als die Türen der Garnitur sich öffne­ten, vergewisserten sich Lord Labskaus und der Duke of Durian, dass der mut­maß­liche U-Bahnmörder zwei Wagen vor ihnen auch tatsächlich die Bahn be­stieg. Erst danach zwängten sich auch die beiden Mörderjäger in den zum Bers­ten vollen Zug.

„Sehen Sie ihn?“, fragte Lord Labskaus, nachdem die U-Bahn sich in Bewegung gesetzt hatte.

„Ich bedauere: Nein“, erwiderte der Duke of Durian. „Ich glaube, wir müssen näher an ihn heran.“

„In diese Richtung“, deutete Labskaus auf den schmalen Gang zwischen den Sitzen. „Aber nicht zu nahe.“

Sie schoben sich so unauffällig wie möglich an einigen anderen Fahrgästen vorbei und murmelten da­bei unverständliche Entschuldigungen.

„Verdammt!“, zischte Durian plötzlich. „Wir sind zu weit gegangen. Da, direkt vor uns, das ist er!“

„Wir müssen ihn über­rumpeln“, erwiderte der Lord. „Dann ist er vor lauter Schreck so sehr paralysiert, dass er uns nicht ermorden kann.“

„Ich frage Sie noch einmal“, sagte der Duke. „Wie mordet Gilgamesh eigentlich?“

„Später, Durian, später, jetzt heißt es: Han­deln!“

Er packte den Verdächtigen, der sein Gesicht abgewandt hatte, an der Schul­ter und drehte ihn zu sich herum: „Verflucht! Das ist nicht der U-Bahnmör­der Gilgamesh, sondern Dschingis Khan! Der ist uns völlig egal.“

Der Duke of Du­rian nickte. Sie ließen Dschingis Khan, dem sein Donut aus der Hand gefallen war und der vor Wut grimmig sabberte, kurzerhand stehen und drängten weiter. Schon wenig später entdeckte der Duke of Durian erneut einen Verdächtigen.

„Verdammt, es ist uns jemand zuvorgekommen!“, raunte er Lord Labskaus zu, als er des potentiellen Mörders ansichtig wurde. „Gilgamesh ist schon gefesselt.“

„Wir nehmen ihn einfach mit, so verschnürt wie er ist“, erwiderte der Lord, „und kassieren trotzdem die Belohnung.“

„Ich fürchte, das wird nicht gehen!“, rief der Duke of Durian unvermittelt. „Er hat sich seiner Fesseln schon wieder entledigt!“

„Das ist gar nicht Gilgamesh!“, konstatierte Lord Labskaus, als der Verdächtige sich an ihnen vorbeidrängte und in die Gegenrichtung entschwand. „Das ist Har­ry Houdini, ein Entfesselungskünstler, der sich aus jeder noch so misslichen Lage binnen Sekunden befreit. Er interessiert uns überhaupt nicht!“

„Suchen wir also weiter nach Gilgamesh!“, seufzte der Duke of Durian. „Wir halten gleich. Wir müs­sen also auch auf dem Bahnsteig nachsehen.“

„Gute Idee!“, stimmte Labs­kaus zu, während sie in die Station einfuhren.

„Dort ist er!“, rief der Duke, als sie auf die Bahnsteigkante traten. Er wies aufgeregt nach vorne. „Sie laufen schneller als ich, Labskaus! Überholen sie ihn auf den anderen Seite, schneiden Sie ihm den Weg ab und treiben Sie ihn mir in die Arme!“

Der Lord nickte und sprintete los. Es gelang ihm tatsächlich, ihrer Zielperson den Weg abzuschneiden und sie zur Umkehr in die Gegenrichtung zu veranlassen, in der der Duke of Durian be­reits seine Arme ausgebreitet hatte.

„Diesmal ist es Gilgamesh!“, rief Labskaus schon von weitem. „Seien Sie bloß auf der Hut, er ist brandgefährlich!“

„Ich frage Sie nunmehr zum dritten Mal“, rief Durian verzweifelt zurück. „Wie mordet er denn?“

„Er wirft seinen Opfern U-Bahn-Fahrscheine in den Rachen, bis sie er­sticken“, schrie Labskaus.

„Dann haben wir gewonnen!“, antwortete Durian freu­destrahlend. „Die U-Bahngesellschaft hat doch vorige Woche vollständig auf di­gi­tale Tickets umgestellt. Fahrscheine aus Papier gibt es nicht mehr. Gilgamesh ist völlig harmlos!“

Zum Beweis stellte Durian sich dem Mörder entgegen, drehte ihm einen Arm auf den Rücken und machte Gilgamesh auf diese Weise dingfest.

„Wie konnte ich das nur vergessen?“, rief Labskaus und zückte sein Mobiltelefon, um die Polizei zu rufen.

Er klopfte Durian auf die Schulter.

„Große Klasse, mein Freund!“

Wenige Wochen später wurde die ausgelobte Belohnung in voller Höhe an Lord Labskaus und den Duke of Durian ausbezahlt. Sie kauften von dem Geld ihre Landsitze zurück, die nebeneinander lagen.

„Ich empfände es als eine schöne Geste“, sagte der Duke of Durian, nachdem alle Transaktionen abgewickelt waren, „wenn wir Dschingis Khan und Harry Houdi­ni, die in unserem Abenteuer von uns geradezu abgeschasselt wurden, auf unsere Landsitze einlüden, auf eine Tasse Tee.“

„Eine charmante Idee“, pflichtete ihm Lord Labskaus bei. „Das machen wir!“

Dschingis Khan und Harry Houdini erwie­sen sich als nicht nachtragend und nahmen die Einladung mit Freuden an. Sie ver­standen sich schließlich so gut miteinander, dass es nicht bei dem einen Tref­fen blieb, und dass weitere Treffen folgten, aus denen sich zwischen den Vieren eine stabile Männerfreundschaft herausschälte, die sich auch in stürmischen Zeiten als belastbar erwies.

Michael, 24.Oktober 2025

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