„Mir ist langweilig“, denkt das Jagdgewehr, ein Remington Modell 700. „Mein Jäger hat sich mit meiner Hilfe leider selbst ins Knie geschossen und fällt noch für geraume Zeit aus, zumindest bis er das Gehen mit seiner Beinprothese wieder erlernt hat. Ich werde einfach ohne ihn auf die Jagd gehen, dann hab ich keine Langeweile mehr. Autofahren kann ich nicht; deshalb werde ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln in die Wälder fahren. Vielleicht begleitet mich ja meine Freundin, die Walther PPK, mit deren Hilfe mein Jäger schon so manchem Wild den Gnadenschuss gesetzt hat.“
Frohen Mutes drückt das Gewehr von innen den Waffenschrank auf, hüpft heraus, klappt die Pistolenkassette auf und weckt die Walther.
„Liebe Walther“, sagt das Gewehr. „Ich gehe jagen, weil ich Langeweile spüre. Kommst du mit?“
„Ohne den Jäger?“, fragt die Walther mit zweifelndem Unterton. „Ich weiß nicht recht. Wo steckt denn unser Herr und Meister?“
„Er übt das Humpeln mit Prothese und mit Krücken“, sagt das Remington. „Mit ihm ist vorerst nicht zu rechnen. Er hat sich sowas von ins Knie geschossen.“
„Ach ja“, seufzt die Walther. „Ich erinnere mich.“
„Ich fahre mit dem Bus in die Wälder“, sagt das Jagdgewehr. „Kommst du nun mit?“
„Ei, freilich!“, ruft die Walther unvermittelt. „Irgendjemand muss die armen Rehe ja erlösen, wenn du lausig schießt.“
„Wir müssen genug Patronen mitnehmen“, sagt das Remington. „Wenn wir keinen Menschen dabei haben, der für uns zielt, werden wir öfter schießen müssen als normalerweise, damit wir etwas treffen.“
„Ich kenne den Code vom Munitionstresor“, sagt die Walther.
„Hervorragend!“, grinst das Jagdgewehr. „Wir werden viel Spaß haben in den Wäldern.“
Mit vereinten Kräften öffnen sie den Tresor und packen soviel Munition ein, wie sie in ihrem Rucksack verstauen können, was ihnen ziemlich schwer fällt, weil sie ja keine geeigneten Greiforgane besitzen und die Patronen mühsam einzeln in den Rucksack rollen müssen.
„Fertig!“, ruft die Walther nach geraumer Zeit. „Endlich!“
„Wenn wir uns beeilen“, erwidert das Remington, „dann schaffen wir den nächsten 145er, der in zehn Minuten in Richtung Hubertuswäldchen fährt.“
„Packen wir’s!“, stimmt die Walther zu. „Den Rucksack musst allerdings du tragen. Dafür bin ich doch zu schmächtig.“
„Klar“, sagt die Remington und hängt sich den schweren Behälter mit großer Mühe um.
Sie schaffen es tatsächlich vor der Ankunft des 145ers bis zur Haltestelle. Der Buslenker will ihre Fahrkarten sehen.
„Brauchen wir nicht“, sagt das Remington. „Wir sind Zubehör.“
„Haben wir auch nicht“, ergänzt die Walther.
„Zubehör seid ihr nur, wenn ihr euren Jäger begleitet“, erklärt der Chauffeur. „Wenn ihr allein reist, braucht ihr Fahrkarten.“
„Unser Jäger ist leider verhindert“, sagt das Jagdgewehr. „Irgendjemand hat ihn nämlich ins Knie geschossen. Willst du wissen, wer das war?“
„Nein“, sagt der Buslenker. „Ich will, dass ihr mir gültige Fahrkarten vorweist.“
„Ich verrate es dir trotzdem“, erwidert das Remington. „Ich war’s. Irrtümlich. Ich kann übrigens auch Buschauffeuren irrtümlich ins Knie schießen. Tut sehr weh und man braucht danach eine Prothese.“
„In Ordnung“, sagt der Chauffeur. „Ihr seid Zubehör. Ihr könnt ohne Fahrkarten nach hinten durchgehen.“
Die beiden Waffen nicken. Bis zum Hubertuswäldchen verhalten sie sich unauffällig und sehen zu, dass niemand von den anderen Fahrgästen sie anspricht.
Am Wäldchen steigen sie aus. Nachdem der Bus sich wieder in Bewegung gesetzt hat, sehen das Jagdgewehr und die Pistole, dass der Buslenker ihnen beim Vorbeifahren den Stinkefinger zeigt.
„Soll ich ihm die Heckscheibe einschießen?“, ruft die Walther zornig. „Geht ganz schnell!“
„Du bist noch nicht geladen“, wiegelt das Remington ab. „Außerdem wollen wir kein Aufsehen erregen.“
„Dann sollten wir uns nun laden“, schlägt die Pistole vor. „Damit wir vorbereitet sind, wenn das Wild kommt.“
Das Gewehr nickt. Sie füllen ihre Magazine und begeben sich dann auf einem Holzweg ins Wäldchen.
„Komisch“, sagt die Walther, nachdem sie eine Weile durch die Reihen der Bäume gestreift sind, „in diesem Wäldchen gibt es überhaupt keine Tiere. Nicht nur kein Wild, sondern überhaupt keine Tiere.“
„Das will ich nicht glauben“, sagt das Remington. „Ich schieße nun einfach drauflos. Dann sehen wir, ob etwas herunterfällt von den Bäumen.“
Das Jagdgewehr schießt kurzerhand sein Magazin leer.
„Und?“, fragt es danach. „Ist etwas heruntergefallen?“
„Ja“, sagt die Walther knapp, „aber bloß Zweige und Blätter.“
„Dieses Wäldchen ist tiertechnisch tot“, sagt das Remington. „Wie schade. Fahren wir also wieder heim und denken wir nach, was als nächstes zu tun ist.“
„Ich habe noch gar nicht geschossen“, sagt der Revolver.
„Dann schieß doch auch ein paar Zweige und Blätter herunter“, sagt das Remington. „Danach fahren wir aber nach Hause.“
„Ach, was“, winkt die Walther müde ab. „Gehen wir gleich zurück zur Bushaltestelle. Der nächste 145er kommt im wenigen Minuten.“
Als sie wieder an der Haltestelle eintreffen, trauen sie ihren Augen nicht. Statt eines Busses stehen zehn Busse der Linie 145 an dem gelben Schild vor dem Wartehäuschen. Aus allen Bussen strömen aus den geöffneten Türen Tiere hervor, Wild, Biber, Marder, Frösche, Kröten, Schmetterlinge, Libellen, Vögel und Schnecken.
Das Remington schiebt mit seinem Lauf den erstbesten Biber in die Luft.
„Kannst du mir sagen, was hier vorgeht?“, ruft es erbost. „Wo um alles in der Welt wart ihr denn?“
„Wenn du mich wieder auf den Boden setzt“, sagt der zappelnde Biber, „verrate ich es dir.“
Das Jagdgewehr senkt seinen Lauf widerwillig zum Boden.
„Wir waren auf der jährlichen Tierbetriebsversammlung des Hubertuswäldchens“, erklärt der Biber. „Ein Pflichttermin für jedes Tier in diesem Wald.“
„Ach, du Schande!“, ruft die Walther. „Was machen wir jetzt? Wir können doch auf offener Straße keine Tiere abknallen!“
„Nein, das können wir natürlich nicht“, sagt das Remington. „Fahren wir also mit dem 145er nach Hause und sehen wir uns im Fernsehen einen Tierfilm an. Das ist auch sehr kurzweilig!“
Die Walther nickt. Sie steigen in den erstbesten der zehn 145er ein, die sich inzwischen vollständig geleert haben.
Der Buslenker – es ist der selbe, der sie bereits auf der Hinfahrt befördert hat – streckt ihnen ostentativ beide Mittelfinger entgegen. Die Walther drückt blitzschnell ab und pustet dem Chauffeur mit zwei Kunstschüssen an den Fingerkuppen gerade soviel Haut weg, dass es wehtut, aber keine bleibenden Schäden hinterlässt.
„Jetzt hast du doch auch noch geschossen“, bemerkt das Remington, „und das auch noch ziemlich gut.“
„Das war mir wichtig“, sagt die Walther. „Jetzt freue ich mich aber auf den Tierfilm.“
Michael, 31. Oktober 2025