Ich habe das Kennzeichen nicht gesehen, Herr Rat, ich meine, nicht bloß die Buchstaben und Ziffern nicht, die vielleicht gar nicht existiert haben, nein, ich meine auch das Kennzeichen selbst, die nackte, womöglich unbestanzte Blechplatte, die vielleicht auch gar nicht da war, vorschriftswidrigerweise gar nicht angebracht an dem Fahrzeug, das mich wahrscheinlich touchiert hat, in der Nacht, im Wald, wenn es nicht doch gar kein Fahrzeug war, sondern etwas anderes, ein Wild vielleicht, ein wildes Stück Wild, das nachts im Wald zwar freilich etwas zu suchen hat, natürlich aber nicht ausgerechnet dann, wenn ich gerade im Wald unterwegs bin, Herr Rat, und das, wenn es schon just zur selben Zeit am selben Ort unter dem selben Baum äsen muss wie ich, dem gerade speiübel war, jedenfalls zumindest ein Kennzeichen tragen sollte, meinetwegen ein Wechselkennzeichen, und weil es ja ein Wild ist, auch ein spezielles Wildwechselkennzeichen, wenn es schon beim Äsen auf einer Waldwiese grunzend wie ein Wildschwein auf mich auffährt, in der hundsgemeinen Absicht, mich zu Fall zu bringen und mir das in Hülle und Fülle vorhandene Gras streitig zu machen, aus purem Neid, aus Futterneid, aus hundsgemeinem Futterneid, grunzend wie ein Wildschwein, wie schon gesagt, auch wenn es womöglich ein Reh war, ein Reh eben ohne vorgestanztes Kennzeichen oder überhaupt ganz ohne Kennzeichen, ja, ich weiß, Herr Rat, ich wiederhole mich vielleicht, aber es geschehen ungeheure Dinge nachts in unserem Wald, die sich nicht wiederholen dürfen und deretwegen ich jetzt hier vor Ihnen stehen muss, um mich zu verantworten, ungerechtfertigter Weise, sage ich, weil ich ja kein Kennzeichen tragen muss im Wald, weil mir als Rechtssubjekt ja mein Personalausweis genügt, mein geliebter Personalausweis, den ich immer mit mir führe, wenn ich nachts im Wald äse, auch wenn mir noch so speiübel ist, allein schon das Foto auf dem Ausweis, auf welchem ich so gut getroffen wurde wie kaum jemals zuvor, rechtfertigt, gebietet und begründet bereits die Mitnahme besagten Ausweises, Herr Rat, eines Ausweises, der im Wald als mein Kennzeichen gilt, woraus folgt, dass ich meine Kennzeichnungspflicht nicht verletzt habe, ich nicht, im Gegensatz zu jenem nun bereits mehrfach besprochenen hundsgemeinen Stück Wild, das mich von der Wiese drängen und mich am Äsen hindern wollte und das völlig inkognito unterwegs war, in einem Blindflug, einem erkennungsdienstlichen Blindflug, dem ich Einhalt gebieten musste, allein schon um meine Haut zu retten, dem ich also das Fell gerben musste, um meine eigene Haut zu retten, hoho, Herr Rat, ja, hoho, im Sinne eines unbeabsichtigten Witzes, der mir gerade entschlüpft ist, in dieser durch und durch ernsten Angelegenheit, und wie sonst soll ich meine Haut retten als durch Waffengebrauch, durch tapferen Waffengebrauch, durch heldenhaften Waffengebrauch einem anonymen zweifelhaften Wildsubjekt gegenüber, das sich nicht ausweisen kann, weder durch ein Kennzeichen noch durch einen Personalausweis, und das mir an die Wäsche will, es war Notwehr, Herr Rat, nichts anderes als nackte Notwehr, und ich habe, noch mit Gras im Mund einen Warnschuss in die Luft abgegeben, bedenke das, du Wild, habe ich gerufen, wenn du mich in hundsgemeiner Absicht zu Fall bringen willst, bedenke aber auch, dass ich noch weitere Kugeln in meiner Büchse habe, die ich nicht in die Luft, sondern in deinen Leib hinein abfeuern kann, wenn du mich nicht in Ruhe äsen lässt, aber was will man von einem Wild ohne Kennzeichen und ohne Personalausweis anderes erwarten, mitten in der Nacht, mitten im Wald, als borniertes Unverständnis, als verbockte wildwiderständige Renitenz, die niemand ertragen kann, der bloß friedlich äsen will, der friedlich sein Gras konsumieren will, wie es rechtschaffenen Bürgern zusteht, auch und gerade in der Nacht, die das Gras auch nicht zwangsläufig äsend konsumieren müssen, wie ich es vielleicht auch nicht ausschließlich getan habe in jener Nacht im Wald, nein, natürlich sind auch andere Konsumationsarten denkbar, man kann sein Gras nicht nur abäsen, kauen und hinunterschlucken, Herr Rat, nein, man kann es natürlich auch rauchen, und es ist denkbar, dass auch ich zumindest einen Teil meines Grases in jener Nacht nicht gegessen, sondern geraucht habe, möglicherweise auch nicht bloß einen Teil, sondern das ganze Gras, aber wenn dies der Fall ist, habe ich es nicht getan ohne meinen Personalausweis in meiner Tasche, den das Reh gar nicht sehen wollte, so wie es meinen Schuss in die Luft nicht hören wollte, weil es ihn vielleicht gar nicht hören konnte, weil ich möglicherweise gar nicht in die Luft, sondern gleich in das Reh hinein geschossen habe, berauscht von dem konsumierten Gras, das mir das Reh gar nicht abspenstig machen wollte, Herr Rat, weil es als Wildtier Gras bloß äst, aber niemals raucht, womöglich wollte mich das Reh gar nicht vom Gras unter dem Baum wegdrängen, sondern ist unabsichtlich auf mich gefallen, hingestreckt durch meinen Schuss, den ich vielleicht aus nächster Nähe abgefeuert habe, die eine Hand am Abzug meiner Waffe, die andere in der Tasche auf meinem Personalausweis, der vielleicht nicht ausreicht, um berechtigterweise einen Schuss auf ein Wild abgeben zu dürfen, mitten in der Nacht im Wald, womöglich hätte es dazu eines weiteren Ausweises bedurft, eines Jagdausweises, eines Jagdscheins, den ich in reiner Form nicht besitze, sondern allenfalls in einer Mischform, als Unterfunktion meines Personalausweises, Herr Rat, ich kenne hier die genaue Gesetzeslage aber nicht, und für den Fall, dass ein Personalausweis nicht auch als ein Jagdschein gilt, habe ich mich schuldig gemacht, teilschuldig, minder teilschuldig, weil ich vom Gras benebelt mitten in der Nacht mitten im Wald auf das Reh geschossen habe, das sich dort befand, sich dort aber nicht befinden hätte müssen, wenn es seinem Instinkt oder seinem Rehverstand gefolgt und wenigstens in dieser einen Nacht an einem anderen Ort geäst hätte als ausgerechnet unmittelbar neben mir, und nein Herr Rat, als Wilderei kann man mein Verhalten keinesfalls einstufen, weil ich ja aus der Zivilisation komme und ein ganz Zahmer bin, ein Handzahmer, der so handzahm ist, dass er nicht verurteilt werden muss, schon gar nicht wegen Wilderei und der, wenn diesem Ansinnen stattgegeben wird, verspricht, dass er sein Gras in Zukunft zu Hause rauchen wird, und nicht mehr im Wald und nicht mehr in der Nacht, und der sein Gras in Zukunft ohne Waffe rauchen wird, ohne Gewehr, und das verspricht er mit Gewähr.
Michael, 14. November 2025