Jagdtrieb

Kläffend jagte Bruno der Nachbarskatze hinterher, sehr zum Ärger von Michelle. Markus, Brunos Besitzer, meinte nur achselzuckend: „Das ist halt sein Jagdtrieb. Gegen den anzukämpfen, ist von vornherein aussichtslos.“

„Das gefällt dir auch noch?!“, fauchte sie den grinsenden Nachbarn an. Der zuckte lediglich mit den Schultern und pfiff seinen Hund zurück. Zu Michelles Erstaunen gehorchte Bruno sofort.

Michelle und Markus waren tatsächlich wie Hund und Katz. Mal ging es um den Gestank des Komposters, dann um überhängende Äste oder nächtliche Ruhestörung. Streitpunkte gab es genug – und sie nutzten wirklich jeden einzelnen.

Doch eines Tages änderte sich Brunos Verhalten schlagartig. Sobald die Nachbarskatze auftauchte, suchte er winselnd das Weite.

„Was ist denn aus seinem Jagdtrieb geworden?“, fragte Michelle scheinbar beiläufig.

Markus winkte ab, doch die Frage ließ ihn nicht los. Besorgt suchte er den Tierarzt auf.

„Mhh“, machte der Arzt, während er Bruno gründlich abtastete. „Körperlich scheint alles in Ordnung zu sein.“ Weitere Untersuchungen folgten – ohne Befund.

„Vielleicht ist er einfach gescheiter geworden“, meinte der Tierarzt schließlich. „Oder hatte mit einer Katze eine schlechte Erfahrung.“ „Gescheiter geworden…?“, murmelte Markus skeptisch.

Noch merkwürdiger war, dass Brunos Wesenswandel auch auf Markus abzufärben schien. Plötzlich hatte er keine Lust mehr, sich die Nächte in Clubs um die Ohren zu schlagen, keine Dates mehr, stattdessen Fitnessstudio und frühe Abende.

„Bist du krank, Markus?“, fragte Michelle eines Tages, nachdem wochenlang keine neuen Bekanntschaften mehr ein- und ausgegangen waren. „Ich werde älter. Ich brauche mehr Ruhe“, sagte er nachdenklich.

„Da geht’s dir ja wie dem Bruno“, stellte Michelle fest.

„Ich fürchte fast, ich hatte das Symptom zuerst – und Bruno hat’s nur gespiegelt“, meinte Markus nachdenklich. Und in diesem Moment fiel ihm zum ersten Mal auf, wie süß Michelle lächeln konnte.

„Lust auf einen Kaffee?“, fragte er.

„Warum nicht“, antwortete sie und lächelte noch ein bisschen süßer.

Als Michelle zwei Wochen später neben Markus im Bett aufwachte, musterte sie ihn und grinste: „Dein Jagdtrieb ist ja doch noch vorhanden!“

„Dank dir“, flüsterte Markus und fühlte sich zum ersten Mal in seinem Leben wirklich angekommen.

Vor der Schlafzimmertür schlief Bruno zufrieden. Endlich hatte sein Plan funktioniert – denn die ständig wechselnden Frauen, die ihn nachts um drei aus dem Schlaf gerissen hatten, waren ihm schon lange gründlich auf die Nerven gegangen.

Harald, 21. November 2025.

Hinterlasse einen Kommentar