Marlies, Onkel Rudi, Tante Mimi und die Schnepfen

Marlies jagt den ganzen Tag Seifenblasen, bis sie platzen. Sonst tut sie fast nichts. Gelegentlich bohrt sie hingebungsvoll mit dem Finger in der Nase, aber das zählt nicht, sagt Marlies, weil das sowieso jeder macht.

„Was soll nur aus dir werden, Kind?“, sagt ihr Onkel Rudi, bei dem sie aufwächst.

Onkel Rudi ist ein Bruder ihres verstorbenen Vaters, der ein Wilderer ersten Ranges war. Marlies‘ Vater ist aber nicht im Wald gestorben, auf der Flucht, wie es sich für einen Wilderer eigentlich gehört, sondern im Winter im Dorfteich ersoffen, weil das Eis ihn nicht trug, als er hoch illuminiert vom Wirtshaus heimgewankt ist und seinen Weg abkürzen wollte.

Onkel Rudi hat Marlies nur widerwillig bei sich aufgenommen, nachdem seine bessere Hälfte, Tante Mimi, ihn wochenlang bearbeitet hatte. Erst als Tante Mimi ihm mit einer Aussetzung des ehelichen Verkehrs drohte, gab Onkel Rudi klein bei und nahm Marlies in seinem Haus auf.

„Ich mach das nur“, sagt er zu seiner Nichte, „bis deine nichtsnutzige Mutter aus der Karibik heimkommt, was hoffentlich bald der Fall sein wird.“

Alle wissen aber, dass Marlies‘ Mutter nicht im Entferntesten daran denkt, jemals wieder heimzukommen, weil ihr der Rum in der Karibik einfach zu gut schmeckt.

„Aus mir wird gar nichts mehr“, sagt Mar­lies also auf die ohnehin rhetorisch gestellte Frage ihres Onkels nach ihrer Zu­kunft, „weil ich nämlich schon etwas bin, eine Seifenblasenjägerin nämlich.“

„Kann ja sein, dass du etwas von der Jagdleidenschaft deines Vaters geerbt hast“, seufzt Rudi, „aber dann jag doch wenigstens etwas Anständiges, wie andere Wilderer­töch­ter, jag Rebhühner oder ein paar Schnepfen.“

„Lass das Kind in Ruhe“, schimpft Tante Mimi, „es soll ruhig weiterhin seine Seifenblasen jagen, wenn es Freude da­ran hat.“

„Ich will dem Onkel Rudi gern ein paar Schnepfen jagen“, sagt Marlies trot­zig, „aber auf meine Art.“

Der Onkel rollt mit den Augen.

„Du hast ja rein gar nichts vom Wildererinstinkt deines Bruders“, sagt Tante Mimi streng, „du bist ein Buchhalter, also schweig, weil du dich nicht auskennst.“

Damit die Tante nicht wieder mit einem ehelichen Verkehrsmoratorium droht, fügt sich der Onkel Rudi und sagt nichts mehr.

„Ich geh noch ein wenig in den Wald“, sagt Marlies auf einmal, „und ich nehme meine Seifenblasen mit. Wenn ich erfolgreich bin, möchte ich, dass ihr mir Papas Winchester herausgebt, abgemacht?“

„Klar“, sagt Tante Mimi, „sie gehört ja sowieso dir.“

Onkel Rudi schweigt lieber immer noch. Marlies zieht ihre Bergschuhe und eine dicke Jacke an, schnappt sich ihren Rucksack und macht sich auf den Weg.

Tante Mimi zieht sich in die Küche zurück, um ein Kalbsbeuschel zuzubereiten, während Onkel Rudi die Zeit nutzt, um Überlegungen darüber anzustellen, wie er die Haushaltsversicherung am geschicktesten übers Ohr hauen kann, damit sie ihm seinen Laubbläser ersetzt, den er selbst absichtlich voller Zorn auf den Garagenboden geschmissen hat, weil der Wind ihm die verdammten Blätter immer wieder in die Garage geweht hat. Er will den Bläser so zerstören, dass man nicht mehr sieht, was wirklich passiert ist.

Etwa zwei Stunden später kommt Marlies freudestrahlend zurück.

„Na, etwas gefangen?“, fragt Onkel Rudi mit leicht süffisantem Unterton, weil er allmählich wieder Oberwasser spürt.

„Durchaus“, sagt Marlies und öffnet die Verschlüsse an ihrem Rucksack.

„Wenn es noch lebt, was du bringst“, sagt Onkel Rudi, „zählt es aber nicht.“

„Du kannst das Kalbsbeuschel einfrieren“, sagt Marlies zu Tante Mimi, die interessiert aus der Küche gekommen ist. „Heute braten wir uns Schnepfen.“

Sie zieht drei Vögel aus dem Rucksack, die sie offensichtlich wirklich eigenhändig erlegt hat.

„Wie hast du das gemacht?“, fragt Onkel Rudi völlig entgeistert. „Die Köpfe der Tiere sehen irgendwie komisch aus.“

„Ganz einfach“, erklärt Marlies, „ich hab die Schnepfen mit meinen Seifenblasen neugierig gemacht und angelockt und Ihnen im richtigen Moment die Hälse umgedreht.“

„Braves Mädchen“, lobt Tante Mimi, „dein Vater wäre stolz auf dich. Ich friere jetzt das Beuschel ein, dann rupfe ich die Vögel.“

Marlies strahlt.

„Und du“, sagt die Tante zum Onkel Rudi, „holst dem Kind inzwischen das Gewehr.“

„Einverstanden“, seufzt der Onkel Rudi, der weiß, dass er ohnehin keine Wahl hat.

„Dann soll sie aber“, sagt er, „vor dem Essen schon ein wenig schießen.“

„Ich schieße aber nicht auf Menschen,“ erwidert Marlies, „und auf Tiere auch nicht.“

„Du sollst“, entgegnet Onkel Rudi, „hinter dem Haus auf meinen Laubbläser schießen, damit es wie ein Jagdunfall erscheint. Dann muss ich ihn nicht selbst zerstören.“

Michael, 21. November 2025

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