Da! Da! Schau!“, brüllte Günther mitten in Wien plötzlich. „Ein Krampus! Das ist doch ein Krampus!“ Aufgeregt hüpfte er von einem Fuß auf den anderen und schoss los wie ein Pfitschipfeil.
Vor ihm stand eine Mutter um die dreißig. „Du bist doch ein Krampus, oder?“, fragte er sie mit weit aufgerissenen Augen.
„Nein, wieso?“, antwortete sie irritiert und schüttelte den Kopf.
„Ein böser Engel vielleicht?“, legte Günther nach.
„Auch das nicht“, erwiderte sie, nun schon etwas belustigt.
Günther glaubte ihr kein Wort, wandte sich aber einer anderen, jüngeren Frau zu.
„Bist du der Krampus?“, verlangte er mit der Entschlossenheit eines Kripobeamten eine Reaktion.
„Bist wo dagegen g’rennt?!“, kam es wenig charmant zurück.
Günther ließ sich nicht beirren. Er sprach ausschließlich Frauen an – und war überzeugt, dass er den Krampus finden würde.
„Ha! Du bist der Krampus!“, rief er, als er eine rothaarige Dame erblickte.
„Bin ich nicht“, sagte sie trocken.
„Und die roten Haare? Überführt!“, triumphierte Günther.
Die Frau schnaubte. „Haben’s dich aus dem Mittelalter wieder aufgetaut?“ Günther verstand weder Tonfall noch Inhalt, aber er gab nicht auf.
Mittlerweile hatte sich in der Fußgängerzone eine ansehnliche Menschenmenge gebildet.
Viele hielten inne, ließen Einkaufstaschen sinken und genossen dieses unerwartet komische Schauspiel. Der vorweihnachtliche Trubel bekam einen Moment lang zum Erliegen und eine ganz eigene Magie entstand. Dann plötzlich:
„Ja. Ich bin es“, sagte eine junge Frau, vielleicht fünfundzwanzig. Ihr Name war Sarah.
Günther hielt inne. Sah sie an. Berührte sie zaghaft. Und sie küssten sich, innig und selbstverständlich, als hätten sie nur aufeinander gewartet.
Unter lautem Applaus – inzwischen gut tausend Menschen – verließen sie Hand in Hand die Szene. Keine zwei Minuten später heulten Sirenen auf. Mehrere Einsatzfahrzeuge rollten an.
„Hat jemand ein Pärchen gesehen? Einer davon hält ständig Leute für den Krampus? Uns sind nämlich zwei abhanden gekommen“, erklärte ein Mitglied der psychiatrischen Einsatzgruppe. Doch jede einzelne befragte Person schüttelte entschieden den Kopf.
„Bist du ein Zeuge?“, fragte ein Psychiater einen Mann mittleren Alters. „Nein“, sagte dieser ruhig. „Ich hab nichts gesehen.“
Die Befragung dauerte bestimmt eine Viertelstunde – und war nicht ansatzweise so unterhaltsam wie die Frage, die alles ausgelöst hatte:
„Bist du der Krampus?“
Sarah und Günther aber saßen in einer alten Holzhütte im Wald, feierten Nikolaus – und wurden nie wieder gefunden.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann lieben sie sich noch heute.
Harald, 12. Dezember 2025.