Das blaue Klappfahrrad war wieder schlank wie früher, der leistungsstarke E-Motor hatte wegen andauernder Überbeanspruchung den Geist aufgegeben. Felicitas war fitter denn je und genoss die neue Leichtigkeit, die sie nun wieder häufiger in den Wald führte. In Erinnerungen schwelgend lauschte sie dem vielstimmigen Zwitschern der Amseln, Finken, Meisen und Stare. Am Hochstand angekommen schrie ihr Justus lüstern laut entgegen, dass sie um vier Minuten zu spät wäre und er fast schon alleine begonnen hätte. Mit dem Zeigefinger auf dem Mund deutete sie ihm an, dass sie noch dem Vogelkonzert ungestört lauschen wollte. Zu ihrer Verzückung fing gerade ein Specht wie besessen zu klopfen an. Justus, dem die Klopfgeräusche gehörig auf den Zeiger gingen, schleuderte seinen Schuh in die Richtung, in der er den Specht vermutete. Leider stellte sich der Erfolg nicht ein, im Gegenteil, ein zweiter Specht begann zu klopfen. Justus nahm seinen zweiten Schuh und warf ihn dorthin, wo er den zweiten Specht vermutete. Dieser klopfte nun sichtlich aufgeregt in einem schnelleren Takt. Felicitas meinte, würde Justus genauer zuhören, hätte er bemerken müssen, dass die Spechte im Morsealphabet „Loser“ klopften. Justus nahm die Kriegserklärung an und entledigte sich weiterer Kleidungsstücke. Mit wehender Hose kletterte er vom Hochstand und rannte in Richtung des Spechtbaumes. Das Endergebnis war, dass seine Hose in ungefähr sieben Meter Höhe im Geäst hängenblieb, während die Spechte beharrlich weiter hämmerten. Justus gab nicht auf und so landeten Jacke, T-Shirt, Unterhose und Socken ebenfalls in verschiedenen Höhen des Baumes. Felicitas genoss den Anblick und wollte zur Sache kommen. Justus schien davon nichts mehr zu halten, sondern umkreiste schreiend nackt den Baum. Er bemerkte gar nicht, dass seine Ehefrau Fiona inzwischen am Hochstand aufgetaucht war, da sie mit dem italienischen Wildkräuterpflückkursleiter, den sie neuerdings datete, auf der Suche nach Wacholder war, der laut dem Italiener ihn für eine dritte Runde fitmachen würde. Erstaunt sprach sie ihren Gatten an, was er hier denn zu suchen hätte. Justus meinte, er hätte die Ornithologie für sich entdeckt, und die Spechte wären weniger scheu, wenn er sich ihnen nackt näherte. Leider hätte eine verwirrte, nächtliche Sparziergängerin seine Kleidung in einem unbemerkten Moment gestohlen, daran gerochen und dann auf einen Baum geworfen. „Ornithologie“, schnaube Fiona verächtlich, „du hältst zumindest im ehelichen Rahmen schon lange nichts mehr vom Vögeln.“ „Da haben wir etwas gemeinsam“, entgegnete Justus. Der Italiener hatte inzwischen einen Strauch Walchoder entdeckt und fuchtelte aufgeregt mit einem abgerissenen Zweig. Justus wunderte sich ein wenig und wollte gerade nachfragen, um wen es sich handelte. Genau in diesem Augenblick fragte Felicitas Justus, ob sie nun endlich beginnen könnten. Justus stammelte, dass die Spechte wohl in dieser Nacht nicht mehr klopfen würden und dass er ihr das Klopfen ein andermal zeigen würde. Fiona wollte das nicht mehr hinterfragen, da der Italiener sich bereits wieder seiner Kleidung entledigte. Felicitas nahm das Angebot von Justus zwar an, aber wollte diese Nacht trotzdem die Spechte klopfen hören. Sie nahm den Italiener an der Hand und er zeigte ihr, was der Walcholder möglich machte. Fiona zog sich mit Justus auf den Hochstand zurück und seit langem hörten sie endlich wieder einmal gemeinsam die Vögel zwitschern. Drei Wochen später kamen junge Spechte zur Welt und Justus störte sich im Beisein von Felicitas gar nicht mehr am Klopfen. Der Italienische Kursleiter gab seiner Gattin weiterhin Einzelunterricht, wobei das Justus nicht weiter störte, wusste er doch, dass der einzige Wacholderbaum weit und breit bald kahl sein würde, da der Italiener auch die beiden Polizistinnen im Ort einzeln betreute. Jahre später wurde der Wacholderbaum unter Naturschutz gestellt.
Harald und Michael, wieder einmal live aus dem Wald.
Schön, wieder etwas von euch zu lesen! Und gleich so eine naturliebe Geschichte 😏😂
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Nicht schlecht, der Specht!
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