Nach 27 Jahren mehr oder weniger glücklichen Ehejahren gab es immer noch Vorfälle, die irgendwie außer Kontrolle gerieten. Er kaufte wie jeden Freitag nach einer arbeitsintensiven Woche seinen Lieblingschampagner beim nahegelegenen Diskonter. Die für den Genuss unbedingt erforderlichen Erdbeeren hatte er am Mittwoch bei einem Biobauern besorgt, die von einem lokalen Hersteller CO2-neutral selbst im Winter produziert wurden. Er kam beschwingt um 19.45 Uhr am Freitag mit seinem Champagner in der Hand nach Hause. Seine Frau saß beim Küchentisch und schlürfte irgendetwas aus einer Schüssel. Nachdem er zwei Champagnergläser auf den Tisch gestellt hatte, öffnete er seine Flasche mit dem typischen Knall und füllte beide Gläser. Anschließend ging er zum Kühlschrank. Er suchte mit seinen Augen die Fächer ab und fand keine Erdbeeren. Er spürte leichte Nervosität bereits aufkommen und schob die Joghurtgläser hin und her. Dann begann er das übrige Obstfach auszuräumen, keine Erdbeeren. Mit spürbarer Aufregung in der Stimme fragte er seine Frau, ob sie denn wüsste, wo seine Erdbeeren wären. „Die sind in meinem Obstsalat und schmecken hervorragend“, antwortet sie desinteressiert, gerade noch verständlich, da sie wieder aus ihrer Schüssel gerade einen Löffel zu sich nahm. Er bekam Schnappatmung. Sie wollte ihn beruhigen: „Drei halbe Erdbeeren sind doch noch da, die kannst du gerne haben.“ „Drei halbe Erdbeeren, drei halbe Erdbeeren…“, wiederholte er mehrmals, wobei seine Emotionen fast außer Kontrolle gerieten. Er stürmte zur Tür, brauchte frische Luft, Champagner ohne Erdbeeren undenkbar, ein Wochenendbeginn ohne Champagner ebenfalls undenkbar. Er ging zum Nachbarn. Dieser wunderte sich über die Frage nach Erdbeeren um diese Zeit und verstand auch nicht ganz, weshalb es sich um den von ihm erwähnten Notfall handeln sollte. Er hatte die Hoffnung aufgeben, als ihm beim siebten Haus eine Frau mittleren Alters öffnete. Sie hatte Erdbeeren und fragte sofort, ob er denn auch Champagner brauchen würde. Sie hatte einen Bollinger 007 Limited Edition zu Hause und sie würde diesen immer zu James Bond trinken. Ihr Freund hätte sie heute versetzt und wenn er Zeit und Lust haben würde, könnte er gerne mit ihr Erdbeeren essend, Champagner trinkend und James Bond schauend den Abend verbringen. Er überlegte nicht lange, sagte zu und machte sich deutlich betrunken erst um 03.00 Uhr morgens wieder auf den Heimweg. Seine Frau lag zwar schon im Bett, fragte aber sofort, wo er denn herkommen würde. Er antwortete, dass er auf der Suche nach Erdbeeren nicht fündig wurde. Sie stellte noch mehr Fragen, er kam in immer mehr Widersprüche und gab schließlich auf. Claudia hätte eben Erdbeeren gehabt und gegen einen Bollinger hätte sowieso kein Mann eine Chance. „Claudia, Claudia, …“, wiederholte nun seine Frau aufgeregt. Er wusste nicht, was er sagen sollte und antwortete: „Drei halbe Erdbeeren, drei halbe Erdbeeren,…“. Beide sahen sich in die Augen, lachten und die Versöhnung dauerte noch bis 04.00 Uhr. Seit diesem Vorfall fehlte es im Kühlschrank nie wieder an Erdbeeren.
Harald, 03. Februar 2023.