Rotkäppchen 2.0

Gar nicht lang nach jenem allseits bekannten Vorfall mit einem Wolf, bei dem Großmutter und Enkelin erst in letzter Sekunde von einem beherzten Jäger zum Glück noch lebend aus dem Verdauungstrakt des Raubtiers geschnitten worden waren, war Rotkäppchens Vorfahrin abermals bettlägerig und siech. 

„Es hilft alles nichts“, sagte Rotkäppchens Mutter zur Tochter. „Du musst wohl noch einmal durch den Wald zu deiner kranken Oma, um ihr etwas zur Stärkung zu bringen. Einen Kuchen habe ich noch da, aber der Wein ist mir ausgegangen. Du wirst diesmal also eine Flasche Champagner mitnehmen müssen, aber glaub mir, der schmeckt der Oma womöglich noch besser als der Wein.“ 

Rotkäppchen, das gerade erst mit psychotherapeutischer Hilfe sein Trauma mühsam losgeworden war, fügte sich dennoch artig in das mütterliche Ansinnen, nahm den Korb mit Kuchen und Champagner und machte sich sogleich auf die roten Socken. Im dunklen Tann begegnete ihm, wie nicht anders zu erwarten gewesen war, wieder ein Wolf (natürlich ein anderer, weil der aus der ersten Geschichte ja tot war, wie wir alle wissen). Der neue Wolf war selbstverständlich genau so böse, verschlagen und fies wie sein Vetter und genau so hungrig und erpicht aufs Vernaschen blutjunger Dinger. Er sprach Rotkäppchen also ungeniert an. 

„Ei, grüß dich, Rotkäppchen, wohin des Weges?“ 

„Hör mir gut zu, du Untier!“, antwortete Rotkäppchen, „wir wissen beide, was sich vor ein paar Wochen hier im Wald zugetragen hat! Und ja, ich bin abermals zu meiner Großmutter unterwegs, die schon wieder schwächelt! Diesmal bringe ich ihr Kuchen und Champagner. Aber ich warne dich: Komm mir nicht zu nahe! Ich habe dazugelernt und trage einen Taschenalarm und einige weitere Gadgets am Leib, die ich ohne Zögern einsetzen werde, wenn du mir an die Wäsche gehst! Haben wir uns verstanden? Und alberne Blumen pflücke ich diesmal auch nicht.“ 

„Na, na, wer wird denn gleich so aggressiv sein!“, erwiderte der Wolf. „Man kann doch für alle Probleme gütliche Lösungen finden! Ich will mich auch gar nicht einmischen, aber hast du Champagner gesagt? Ich bezweifle stark, dass das richtige Getränk ist für eine angeschlagene Greisin, die ans Bett gefesselt ist. Der edle Schaumwein perlt doch viel zu sehr und macht die alte Frau gewiss noch kränker. Was hältst du davon, wenn wir zwei Hübschen uns dort vorne an der Lichtung auf einem Moospolster niederlassen und ganz gemütlich die Flasche gemeinsam leeren? Danach kannst du deiner Oma dann den Kuchen bringen.“ 

„Kommt überhaupt nicht in Frage“, sagte Rotkäppchen, „und jetzt lass mich in Ruhe!“

„Ach, komm!“, bettelte der Wolf. „Du willst es doch auch.“ 

„Ein Wort noch“, drohte Rotkäppchen, „und ich drücke auf den Pocketalarm!“ 

Der Wolf spürte, dass das Mädchen es ernst meinte und dass er rasch handeln musste, wenn er seine Ziele erreichen wollte. Er entriss Rotkäppchen den Korb und verschlang das verdutzte junge Ding gleich an Ort und Stelle mitten auf dem Weg. Er wollte mit Champagner nachspülen, doch als er sich abmühte, um die Flasche zu öffnen, merkte er schnell, dass er mit seinen Wolfspfoten viel zu ungeschickt war, um allein zum Erfolg zu gelangen. Sein Durst war aber groß und musste unbedingt gestillt werden. Der Wolf brauchte also Hilfe. Er schob den Champagner ungeöffnet zurück in den Korb, packte die Henkel mit seinem Maul und machte sich auf den Weg zum Haus der Großmutter, wo er sich Unterstützung erhoffte. 

Er klopfte an die Tür und sah drinnen noch einen Schatten davonhuschen. Es öffnete ihm jedoch niemand. Schließlich umrundete er das kleine Haus und stieß auf der Rückseite auf einen Werkstattschuppen, dessen Tür sich leicht aufdrücken ließ. Das Herz des Wolfs hüpfte höher, als der den Schraubstock entdeckte. 

„Wenn ich die Flasche mit dem Champagner einklemme“, dachte er, „kann ich sie gewiss mit irgendeinem der Werkzeuge öffnen, die hier in Hülle und Fülle zur Verfügung stehen.“

Er setzte seine Idee gleich in die Tat um und spannte die Flasche in den Schraubstock ein. Nachdem er sich gerade eine Feile zwischen die Fänge geklemmt hatte, um damit den Korken aus dem Flaschenhals zu hebeln, hörte er hinter sich plötzlich eine Stimme. 

„Was du begehst, du vollgefressenes Untier“, sagte die Großmutter, „ist Hausfriedensbruch!“ 

Als der Wolf sich umdrehte, sah er, dass eine doppelläufige Schrotflinte auf ihn gerichtet war. 

„Pack dein Gesöff und scher dich zum Teufel! Avanti, avanti!“ 

Es war ein Fehler, dass er die Alte nicht ernst nahm. 

„Ei, Großmutter“, ätzte er, „warum hat deine Flinte abgesägte Läufe?“ 

Ohne Vorwarnung setzte er zum Sprung auf Rotkäppchens Oma an. 

„Damit ich dich besser durchsieben kann!“, rief die Alte und pustete mit allem, was ihr Schießprügel hergab, dem Wolf für immer das Licht aus. Danach verließen sie ihre aufgrund ihrer Krankheit ohnehin schwachen Kräfte und ihre Knie gaben nach. 

Zum Glück stürmte in diesem Augenblick der Jäger in die Werkstatt und entdeckte den toten Wolf und die Großmutter, die bleich auf dem Boden saß. 

„Großmutter, was ist geschehen?“, rief der Jäger. „Ich war in der Nähe und habe Schüsse gehört.“ 

„Es war Notwehr“, hauchte die Großmutter, „er wollte mir ans Leder.“ 

„Sie sind eine beherzte Frau“, sagte der Jäger und half der Alten wieder auf die Beine. Dann inspizierte er den Wolf. 

„Ich habe noch nie ein so dickes Tier dieser Gattung gesehen.“ 

„Herrje“, rief die Großmutter plötzlich. „Meine Enkelin, das Rotkäppchen, wollte mich ja heute besuchen. Womöglich hat das Raubtier sie gefressen. Und ich hab sie erschossen! Das überleb ich nicht!“ 

Da zückte der Jäger rasch seinen Hirschfänger und schnitt dem toten Wolf den Bauch auf. Drinnen saß das Rotkäppchen. 

„Kind, du lebst!“, rief die Großmutter entzückt. 

„Eins meiner Gadgets ist eine kugelsichere Weste“, sagte das Rotkäppchen, während es sich aus den Eingeweiden schälte und sich taumelnd erhob. „Du hast aber auch einen gepflegten Drang zum Abzug, Oma, fast wie Rambo.“ 

„Ich werde doch keinen Ärger bekommen“, fragte die Großmutter den Jäger. „Oder?“

„Nein, nein“, beeilte sich der Jäger zu sagen. „Es war Notwehr. Der einzige, der Ärger bekommt, bin ich, weil ich einen Bericht schreiben muss, was ich hasse, weil ich nie weiß, was ich schreiben soll.“ 

„Schreiben Sie doch“, schlug Rotkäppchen vor, „dass ein Problemwolf spontan letal entnommen wurde.“ 

„Das ist genial!“, frohlockte der Jäger. „Spontan letal entnommen!“

„Das ist meine Enkelin“, sagte die Großmutter stolz. „Das müssen wir feiern!“ 

„Sie haben doch noch eine Flasche Champagner in Ihrem Schraubstock“, sagte der Jäger. „Ich weiß aber nicht, ob das auch das Richtige ist für ein Kind.“ 

„Heute ist es das“, entschied die Großmutter, „heute schon!“ 

Rotkäppchen strahlte, während der Jäger behutsam die Flasche aus dem Schraubstock löste. 

Michael, 16. Juni 2023.

Ein Kommentar zu „Rotkäppchen 2.0

  1. Sehr witzig, danke für dieses Update! Was hätten sich die armen Leute in den Märchen Ärger sparen können, wenn sie heutige Technik zur Verfügung gehabt hätten! Hänsel und Gretel bräuchten dank GPS-gesteuerter Navigation keine Brotkrumen mehr streuen. Beispielsweise.

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