Einmal gelangte ich auf einem nächtlichen Spaziergang an einen mir unbekannten Friedhof. Die Flügel des Eingangstores, die im Föhnwind leicht quietschend hin und her wippten, schienen mich hinein zu winken.
Irritiert leistete ich der Einladung Folge und betrat das von Laternen erhellte Areal. Ich bemerkte nicht auf den ersten Blick, dass auf diesem Friedhof etwas nicht stimmte. Irgendwann sah ich dann, dass sich auf einem der Gräber dort, wo ich die Körpermitte des Verstorbenen vermutete, ein kleiner Erdhügel emporwölbte.
„Verdammte Maulwürfe!“, dachte ich. „Die Mistviecher besitzen keinen Funken Pietät!“
Als ich auf dem nächsten und dem übernächsten Grab exakt an den gleichen Stellen ebensolche Erdhügel entdeckte, war mir klar, dass Maulwürfe als Verursacher mit größter Wahrscheinlichkeit ausfielen. Ich inspizierte weitere Gräber und entdeckte auf allen die gleichen Erdhügel.
„Es ist Ihnen auch schon aufgefallen, was?“, sagte plötzlich jemand hinter mir.
Ich drehte mich um und erblickte einen finsteren Kerl mit einer Schaufel in der Hand.
„Ja, die Hügel sind mir aufgefallen“, sagte ich mit fester Stimme. „Was hat es mit ihnen für eine Bewandtnis?“
„Das fragen sich alle unsere Besucher!“, rief der Mann und klopfte sich mit seiner Linken auf die Brust. „Wenn hier einer Auskunft geben kann, dann ich! Ich bin hier nämlich der Genosse Totengräber. Auf diesem Friedhof liegen ausschließlich Sozialdemokraten, die dem Genuss von Champagner verfallen sind. Die erhabenen Stellen auf den Gräbern markieren die Lebern der Verstorbenen, die aufgrund ihrer Maßlosigkeit letale Zirrhosen entwickelt haben. Die kleinen Hügel sollen als Mahnmale für die Lebenden dienen, damit sie erst gar nicht mit dem Champagnertrinken anfangen.“
„Sehr löblich!“, sagte ich. „Ich befürworte jede Art von Suchtprävention! Aber ist es nicht so, dass gerade Sozialdemokraten nicht unbedingt jene politische Gruppe repräsentieren, die dem hemmungslosen Genuss des Champagners frönen?“
„Ja, das sollte man meinen“, stimmte mir der Totengräber zu, dessen Miene sich mittlerweile merklich aufgehellt hatte. „Es hat sich jedoch herausgestellt, dass viele Genossen bloß deshalb Mitglieder in unserer Bewegung sind, weil sie es sich erwarten, dass unsere Leute in der Regierung dafür sorgen, dass die Bevölkerung in Zukunft kostenlos mit dem edlen Schaumwein versorgt wird. Zur Überbrückung der Wartezeit beginnen sie dann schon auf eigene Rechnung mit dem Champagnertrinken, oft bis zur völligen Überschuldung und fast genauso oft bis zum letalen Ende, wie man an diesem Ort unschwer erkennen kann. Mit gratis Kaviar liebäugeln jene Genossen übrigens auch.“
„Aber Kaviar verursacht keine Leberzirrhosen“, sagte ich.
„So ist es“, bestätigte der Totengräber. „Die Beschaffungskriminalität macht allerdings auch vor sozialdemokratischen Kaviarfressern nicht halt.“
„Dazu kann ich leider nichts sagen!“, rief ich. „Aber ich glaube Ihnen natürlich. Eines interessiert mich allerdings schon noch: Sozialdemokraten präferieren doch für gewöhnlich die Feuerbestattung, die jedweden Anhaltspunkt auf die Position der Leber des Verstorbenen auslöscht. Auf diesem Friedhof kann ich aber kein einziges Urnengrab entdecken.“
„Fein beobachtet“, lobte mein Gesprächspartner. „Aber auch dieses Rätsel lässt sich leicht lösen.“
„Ja?“, sagte ich. „Dann lösen Sie es bitte für mich auf!“
„Die Partei übernimmt die Beerdigungskosten für die Mitglieder, die von Leberzirrhosen dahingerafft wurden“, erklärte der Totengräber, „allerdings nur unter folgenden Bedingungen: dass die Angehörigen von Feuerbestattungen Abstand nehmen, dass die Beisetzung auf diesem Friedhof erfolgt und dass über der Leber des Verstorbenen ein kleiner Hügel errichtet wird.“
„Hat die Abschreckung unter den Genossen eigentlich schon Wirkung gezeigt?“, fragte ich.
„Bloß in marginalem Ausmaß“, räumte der Totengräber ein. „Die Parteileitung will aber unter keinen Umständen aufgeben.“
„Dann danke ich recht herzlich für die erhellenden Erläuterungen“, sagte ich. „Gelegentlich treibt es mich, wenn mich die Schlaflosigkeit plagt, hinaus in die Straßen der Stadt. Heute hat es sich für mich besonders gelohnt, weil ich um einiges klüger geworden bin.“
„Was für ein Zufall!“, rief der Totengräber. „Auch ich leide unter Schlaflosigkeit! Sie ist der Grund dafür, warum ich mich nachts auf meinem Friedhof herumtreibe. Wissen Sie was? Ich lade Sie gern noch auf einen Sprung in meine Dienstwohnung ein. Dort können wir unsere Unterhaltung fortsetzen.“
„Gern! Gibt’s es vielleicht noch etwas zu trinken bei Ihnen?“, erwiderte ich. „Meine Kehle ist ganz trocken von unserem Gespräch.“
„Klar!“, rief der Totengräber. „Es ist noch eine Flasche Champagner im Kühlschrank, und wenn ich mich richtig erinnere, auch noch eine Dose Kaviar.“
„Ich nehme“, sagte ich strahlend, „die Einladung mit Freuden an.“
Michael, 18. August 2023
Freundschaft!
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