Einmal irrte Oswald, dem die Zigaretten ausgegangen waren, mitten in der Nacht auf der Suche nach einem Automaten durch die Stadt. Doch jedes Mal, wenn er endlich fündig wurde, eine Sorte wählte und seine Karte vors Display hielt, wurde ihm mitgeteilt, dass der Automat leider leer sei.
Als Oswald schon völlig entnervt aufgeben wollte, entdeckte er am schmiedeeisernen Tor zum Friedhof einen ihm unbekannten Automaten. Wieder entschied er sich für eine Marke, zückte seine Karte und zog sie über den Scanner.
Eine barsche Männerstimme aus dem Inneren des Geräts beschied Oswald, dass er viel zu jung sei, um zu rauchen, und deshalb keine Zigaretten erhalte.
Da packte ihn ein heiliger Zorn und er ballte seine Hand zur Faust und schlug mit voller Kraft auf den metallenen Korpus des Automaten, der daraufhin erzitterte und mehrere Gegenstände in den Warenschacht plumpsen ließ.
Als Oswald die Klappe öffnete und nachsah, worum es sich handelte, entdeckte er eine kleine Flasche Champagner, eine Packung Zahnseide und einen Radiergummi, aber keine Zigaretten. Maßlos wütend steckte Oswald alles ein und machte sich auf den Rückweg.
Doch als er sich orientieren wollte, musste er zu seinem Entsetzen erkennen, dass plötzlich dichter Nebel eingefallen war und dass außer der Friedhofsmauer nichts mehr zu erkennen war. Oswald fügte sich seufzend in sein Schicksal und folgte dem Verlauf der Mauer.
Er kam nur mühsam voran. Irgendwann erreichte er zu seiner Erleichterung einen der Nebeneingänge. Im Inneren des Friedhofs sorgte eine starke Lichtquelle für eine unübliche Helligkeit. Von ihr fühlte Oswald, der plötzlich keine Furcht mehr empfand, sich gleich angezogen.
Er trat ins Innere des Friedhofs, in dem seltsamerweise die Sicht völlig ungetrübt war vom Nebel, und steuerte zielstrebig auf das Grab zu, von dem das Licht ausging. Zwischen den Astern, die auf der von Stein umrahmten Fläche üppig wucherten, stand ein Gerippe, das ein riesiges Grubenlicht in seiner knöchernen Hand hielt.
„Eigentlich wollte ich mir bloß Zigaretten holen“, sagte Oswald. „Und was hole ich mir stattdessen? Wieder einmal den Tod!“
„Dumm gelaufen“, erwiderte das Gerippe und stellte das Grubenlicht ab. „Und das Schlimmste ist, dass es nicht einmal stimmt.“
„Was stimmt nicht?“
„Dass du dir den Tod holst. Ich bin eine Tödin.“
„Wie soll man das denn erkennen?“, schimpfte Oswald. „Du hast ja überhaupt keine Kurven, wie man es von einer Frau erwarten würde. An dir ist genau so wenig dran wie an einem Männergerippe. Außerdem spielt es keine Rolle, ob Tod oder Tödin.“
„Heute spielt es sehr wohl eine Rolle“, widersprach die Tödin. „Du kannst mich nämlich erlösen. Wenn es dir gelingt, bin ich dein.“
„Wie soll das denn gehen?“, fragte Oswald. „Und was hätte ich überhaupt davon?“
„Wenn du mich erlöst“, sagte die Tödin, „habe ich natürlich wieder Kurven und du kannst mich heiraten.“
„Und was brauche ich, um dich zu erlösen?“
„Das ist der Haken an der Sache“, sagte die Tödin. „Du brauchst ein paar Dinge, die du wahrscheinlich nicht bei dir haben wirst.“
„Die da wären?“
„Eine kleine Flasche Champagner, eine Packung Zahnseide und einen Radiergummi.“
Oswald schwenkte triumphierend seine Beute aus dem Zigarettenautomaten.
„Was muss ich tun?“
„Mit dem Radiergummi tilgst du meinen Namen von dem Grabstein und mit der Zahnseide massierst du solange meine Zahnzwischenräume, bis mir neues Zahnfleisch wächst. Dann trinken wir gemeinsam den Champagner, was bewirkt, dass auch an meinem Körper sich wieder Kurven bilden. Zu guter Letzt heiraten wir.“
„Irene Hopfer heißt du also“, sagte Oswald, während er versuchte, die in den Stein gemeißelten Buchstaben auszuradieren, „ein schöner Name.“
Obwohl er sich alle Mühe gab, gelang es ihm nicht, den Namen zu entfernen.
„Ich schaffe es nicht“, sagte er zur Tödin. „Was sollen wir bloß tun?“
„Halb so schlimm“, erwiderte die Tödin. „Es zählt auch der Versuch! Und jetzt beeil dich und massiere mir die Zahnzwischenräume!“
Oswald, der zum ersten Mal in seinem Leben ein sprechendes Gerippe berühren musste, überwand nur mit Mühe seinen Ekel, riss ein Stück Zahnseide ab und steckte es der klapperdürren Irene Hopfer in den Mund. Er zog den Faden durch die riesigen Zwischenräume im Gebiss der Tödin. Trotz aller Anstrengung bildete sich kein neues Zahnfleisch.
„Auch hier zählt der Versuch“, sagte die Tödin, die Oswalds Gedanken zu erraten schien, nach einer Weile. „Du kannst aufhören. Das Wichtigste ist der Champagner.“
Oswald öffnete die Flasche und verteilte den Inhalt in die leeren Kunststoffhüllen zweier abgebrannter Grabkerzen. Einer der Hüllen reichte er der Tödin, damit sie anstoßen konnten.
Gerade als sie zu einem ersten Schluck ansetzen wollten, fing die Erde in dem Grab zu beben an, woraufhin sich ein mächtiger Riss im Boden auftat.
„Verdammt!“, rief die Tödin entsetzt. „Rasch, wirf den Champagner weg!“
„Irene!“, rief eine tiefe Stimme aus dem Spalt im Grab, „treibst du schon wieder Unfug?“
Vor lauter Schreck tat Oswald es der Tödin nach und ließ seine Kunststoffhülle fallen. Aus dem Grab stieg ein weiteres Gerippe und hob die beiden Hüllen auf.
„Ich dachte es mir!“, rief der Neuankömmling triumphierend. „Wieder einmal Champagner!“
Er drehte sich zu dem völlig verdatterten Oswald.
„Ich schulde Ihnen eine Erklärung. Meine Name ist Ägidius Hopfer. Ich bin der Vater von Irene. Sie ist erst vierzehn und darf daher weder Champagner trinken noch heiraten! Sie ist ein Satansbraten und gehorcht mir nicht! Immer wieder lässt sie ihren Bruder den Zigarettenautomaten vor dem Friedhof manipulieren, um Freier zu uns hereinzulocken.“
Der tote Ägidius Hopfer packte seine Tochter am Handgelenk.
„Ich bitte Sie um Vergebung“, sagte er zu Oswald, „entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten. Vielleicht kann das hier Sie ein wenig entschädigen.“
Er drückte Oswald einen flachen silbernen Gegenstand in die Hand.
„Und jetzt ab nach Hause!“, sagte er dann zu seiner Tochter, die er immer noch fest an der Hand hielt. Gemeinsam fuhren sie in den Riss im Grab hinein, der sich hinter ihnen unmittelbar danach spurlos verschloss.
Es dauerte noch eine Weile, ehe Oswald sich so weit gefasst hatte, dass er den silbernen Gegenstand in seiner Hand einer kritischen Musterung unterzog und ihn aufklappte. Es war ein volles Zigarettenetui.
Als Oswald sich an einem noch brennenden Grablicht an einem der Nachbargräber eine Zigarette anzündete und den blauen Dunst in seine Lunge sog, stellte er fest, dass es ihm überhaupt nicht mehr schmeckte und dass dies ein guter Zeitpunkt war, um mit dem Rauchen aufzuhören, am besten gleich für immer.
Michael, 3. November 2023
Sehr schöne Geschichte! Ist Tödin der offizielle Begriff für weibliche Tode? Ich hab da selber mal lange recherchiert, aber nichts verlässliches gefunden. Man will ja als armer Blogger keine weiblichen Sensenfrauen durch falsches Gendern verärgern. Wer weiß, wo man die mal trifft.
LikeLike
Danke, Marco! Duden & Wiktionary kennen weder „Tödin“ noch „Todin“. Ich habe mich für „Tödin“ entschieden, weil mir das bei meinen Recherchen öfter untergekommen ist. Und natürlich will man niemandem vergrätzen, dem man irgendwo auf einem Friedhof einmal begegnen könnte … Allerdings rauche ich ja schon lange nicht mehr.
LikeGefällt 1 Person