Der Geist der Milly Pidgeon

In dem B&B in Dover, in dem ich mich einquartiert hatte, fragte ich meine Ver­mieterin nach einem Weg von den Klippen hinunter zum Meer. Es gäbe drei Pfa­de, die in Frage kämen, erwiderte sie: Den Path of Destiny, den Path of Abolition und den Path of Vengeance.

Die ersten beiden seien ausgeschildert und auch von Klippenneulingen wie mir leicht begehbar. Von dem dritten Pfad, dem Path of Vengeance, würde sie mir dringend abraten. Selbst die Einheimischen mieden und fürchteten ihn. Irgendwo auf seinen verschlungenen Kehren hause nämlich der Geist der Selbstmörderin Milly Pidgeon, die sich dort hinabgestürzt und den Tod gefunden hätte. Ihr Leichnam sei nie geborgen worden. Seither erscheine sie den Wanderern als weiße Taube und locke sie durch ihr sanftes Gurren ins Ver­derben.

Einige seien erst Tage nach ihrem Abstieg mit leerem Verstand unten am Meer herumirrend aufgegriffen worden. Drei seien sogar gestorben. Als man sie obduziert hätte, hätte man in ihren Schädeln keine Großhirne mehr gefunden.

Obwohl ich meine Wahl insgeheim längst getroffen hatte, sagte ich meiner Ver­mieterin, dass ich noch schwankte zwischen dem Path of Destiny und dem Path of Abolition.

Ich machte mich auf den Weg und entdeckte dank meiner Hartnä­ckigkeit nach einigem Suchen den Einstieg zu einem nicht markierten Pfad, den ich einschlug.

Schon nach wenigen hundert Metern erhielt ich durch ein sanftes Gurren, das ich vernahm, die Bestätigung, dass ich mich auf meinem Wunsch­pfad befand. Ich eilte beschwingt den abschüssigen Weg hinunter. Das Gurren wurde lauter, blieb jedoch sanft. Schließlich verdunkelte sich über mir die Sonne. Als ich nach oben blickte, sah ich, dass eine riesige weiße Taube sich auf meiner Lederkappe niedergelassen hatte.

„Milly Pidgeon, wie ich annehme?“, rief ich.

„Exakt!“, gurrte der riesige weiße Vogel. „Mit wem habe ich das Vergnügen?“

„Bart Wish ist der Name“, erwiderte ich. „Sehr angenehm.“

„Es wird alles andere als angenehm, mein Junge“, sagte Milly Pidgeon. „Ich werde dir jetzt nämlich dein Hirn aus dem Schädel picken. Du kannst von Glück sagen, wenn du es über­lebst.“

„Das glaube ich nicht Miss Pidgeon“, bluffte ich. „Die Lederkappe, auf der Sie sitzen, ist nämlich mit Stahlfäden durchwirkt, an denen Sie sich Ihren hässli­chen Taubenschnabel krummpicken werden.“

Milly Pidgeon schien ernstlich irri­tiert.

„Ja, nein!“, gurrte sie aufgebracht. „Mir hat sich noch nie einer widersetzt.“

„Dann bin ich, Bart Wish, der erste! Nun picken Sie schon, Milly Pidgeon, wenn Sie sich trauen, nur zu! Ich werde Sie nicht in die Tierklinik tragen, wenn Sie vor Schmerzen wimmern.“

„Ich muss ja nicht jeden in den Wahnsinn treiben oder tö­ten“, rief sie verunsichert. „Ausnahmen bestätigen die Regel.“

„Da haben Sie Recht, Miss Pidgeon“, rief ich und packte sie mit beiden Händen an ihrem Tau­benhals und drückte zu. „Da haben sie Recht!“

Ich würgte sie, bis sie tot war. Schließlich verzichtete ich darauf, auf dem Path of Vengeance bis zum Meer hin­unter zu steigen. Stattdessen schulterte ich den Taubenkadaver und machte mich auf den Rückweg zu meinem B&B.

Ich warf meiner Vermieterin den toten Rie­senvogel vor die Füße.

„Der Path of Vengeance kann ab sofort auch wieder be­nutzt werden“, sagte ich.

Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

Michael, 19. April 2024

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