Kaktomorphose

Es gab eine Zeit in meinem Leben, in der von einem Tag auf den anderen mein rechtes Ohrläppchen aus unerklärlichem Grund zu jucken anfing. Das Jucken wurde alsbald von einem Stechen abgelöst, das noch unangenehmer war und schließlich in einen Schmerz ausartete, der mich ins Wartezimmer meines Haus­arztes Dr. Winter trieb.

„Oh, Doktor“, rief ich verzweifelt, „bitte helfen Sie mir, ich bin beschädigt, ich spüre einen stechenden Schmerz, dort, wo einst nur mein rechtes Ohrläppchen war.“

Dr. Winter nahm sein Otoskop zur Hand und fing mur­melnd an, in meinem rechten Gehörgang zu stochern. Auch das zugehörige Außenohr geriet zum Gegenstand seiner peinlich genauen Untersuchungen. Der Doktor praktizierte der Reihe nach ein Zerren, ein Zupfen, ein Schaben, ein Krat­zen und zuguterletzt ein ein wenig verzweifelt anmutendes Kneten und Walken.

„Und?“, fragte ich erwartungsvoll, als Dr. Winter endlich von mir abließ.

„Nichts“, sagte mein Arzt, „gar nichts, eigentlich sogar noch weniger als nichts! Ihr rechtes Ohr taugt allemal als Musterohr für jeden Hochglanzohrenkatalog.“

„Aber dieses Stechen!“, rief ich fast schon erbost. „Es muss eine Ursache haben! Ich halte es nicht mehr länger aus!“

„Es gibt nur eine einzige Möglichkeit: Ihr Stechen ist eine sogenannte Punctio imaginata, zu Deutsch, ein eingebildetes Stechen.“

„Und?“, fragte ich zum zweiten Mal. „Ist das schlimm? Ist es heilbar?“

„Es ist medizinisch unheilbar“, sagte Dr. Winter knapp. „Sie müssen es sich selbst wegdenken. Das ist die einzige mögliche Therapie.“

Wutschnaubend verließ ich die Praxis. Ich nahm den Weg durch den Park und ließ meinen Zorn an unschul­di­gen Rentnerinnen aus, denen ich herumliegende Kastanien gegen ihre Schien­beine kickte. Plötzlich spürte ich das Stechen in meinem Ohrläppchen heftiger als je zuvor.

„Ich will, dass es sofort aufhört!“, schrie ich. „Auf der Stelle soll es auf­hö­ren!“

„Warum sagst du das denn nicht gleich?“, sagte plötzlich eine Stimme hinter meinem Ohr. „Darüber kann man doch reden!“

Ich fasste mir instinktiv ans Ohr, spürte dort aber niemanden. Auch als ich mich herumdrehte, gewahrte ich keine Menschenseele.

„Verdammt!“, rief ich. „Wer bist du, der du da mit mir sprichst? Und keine langatmigen Erklärungen bitte, mein Nervenkostüm ist bloß noch hauchdünn!“

„Ich bin dein persönlicher Ohrwaschelgeist“, sagte die Stim­me, „und ich piekse dich, weil es mir großen Spaß macht.“

„Und womit piekst du mich, wenn du ein Geist bist?“, fragte ich.

„Mit meinen Stacheln! Du musst wis­sen, dass ich noch nicht lange ein Geist bin. Ich bin verhext worden. Ich bin ein verzauberter Ohrwaschelkaktus, den nur du erlösen kannst.“

„Wenn du jetzt glaubst, dass ich einen unsichtbaren Kaktus küsse, hast du dich aber geschnit­ten!“

„Von Küssen kann keine Rede sein“, rief der Ohrwaschelkaktusgeist. „Du musst mit mir nach Äthiopien fliegen und mich dort am Rande der Wüste ein­graben, damit ich wieder wurzeln kann.“

„Und wenn ich mich weigere?“

„Dann piekse ich dich weiter, dass es nur so raucht.“

„Einverstanden“, lenkte ich seuf­zend ein. „Bringen wir es hinter uns. Fliegen wir nach Äthiopien.“

Ich buchte uns einen Flug nach Dire Dawa und mietete einen Jeep, mit dem wir uns auf den Weg machten zur Wüste Danakil. Mit dem Ohrwaschelgeist hatte ich vereinbart, dass er mich erst dann wieder ins Ohrläppchen pieksen durfte, wenn wir an der Stelle waren, an der er eingegraben werden wollte.

Es war so heiß in Äthiopien, dass mir buchstäblich das Hirn aus der Schädelkalotte verdunstete. Ich bereute es bald zutiefst, dass ich mich darauf eingelassen hatte, dem Ohrwa­schelkaktus bei seiner Erlösung behilflich zu sein.

Zu meiner Erleichterung stach er mich nach einem nicht enden wollenden Ritt über staubige Schotterpisten end­lich ins rechte Ohrläppchen. Ich hielt sofort an und merkte, dass ich etwas Wichtiges vergessen hatte. Ich hatte keine Schaufel im Gepäck und war also gezwungen, mit bloßen Händen im höllisch heißen Wüstensand ein Loch zu bud­deln, was mir auch noch meine letzten Kräfte abverlangte.

„Ist es endlich tief genug?“, fragte ich meinen Geist, als ich nicht mehr konnte.

„Klar!“, rief der Ohrwaschelgeist. „Du hättest schon viel eher aufhören können! Ich wollte dich bloß nicht stören, weil du so engagiert am Graben warst! Ich fahre jetzt in das Loch hinein und fange an zu wurzeln, damit ich erlöst werde.“

Zu meinem Er­staunen klappte es sofort. Nachdem es in dem von mir gegrabenen Loch eine Weile unheilvoll gezischt hatte, materialisierte ein bildschöner Ohrwaschelkak­tus, der zum Glück immer noch sprechen konnte.

„Alles paletti!“, strahlte der Kak­tus. „Du hast mich tatsächlich erlöst. Und soll ich dir ein Geheimnis verraten? Ich bin gar kein Ohrwaschelkaktus, sondern eine Kakteuse! Weißt du, was das für uns beide bedeutet?“

„Nein, nein!“, rief ich entsetzt, weil mir sofort klar war, was die Kakteuse gemeint hatte. „Ich werde dich jetzt nicht heiraten, weil mir meine empfindlichen Weichteile doch sehr lieb sind.“

„Schade“, sagte die Kakteuse, „aber du hättest die Götter um deine Verwandlung ersuchen können.“

Da die Hit­ze mittlerweile so unerträglich geworden war, dass ich mir fast sicher war, es nicht mehr lebend nach Hause zu schaffen, fasste ich spontan den Entschluss, die hiesigen Götter doch um ihren Beistand zu bitten.

„Oh, ihr Wüstengötter!“, betete ich. „Verwandelt doch bitte auch mich in einen Ohrwaschelkaktus, damit ich mit dieser Kakteuse den stacheligen Bund der Ehe eingehen kann!“

Ich wurde auf der Stelle transformiert und fand mich an die herrschenden Temperaturen perfekt an­gepasst im Wüstensand wurzelnd neben der von mir erlösten Kakteuse wieder.

Nachdem ich ihr zärtlich erste Pollen hinübergeschickt und sie deren Empfang zufrieden schnurrend quittiert hatte, wusste ich, dass ich die richtige Entschei­dung getroffen hatte.

Michael, 31. Mai 2024

Ein Kommentar zu „Kaktomorphose

  1. Lieber Michael,
    Du bist mit Deiner Geschichte in paar Tage voraus. Ich nehme an, dass Dein Ohrwaschl leicht beschädigt ist? P

    Von meinem iPhone gesendet

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