Freigeist

Hans fuhr sich unbeeindruckt durchs Haar als er den Helm abgelegt hatte und sein Motorrad  aufgrund doch deutlich erhöhter Geschwindigkeit 300 Meter entfernt in einem Feld gelegen war. Er wäre auch in kein Krankenhaus gekommen, wenn er nicht zu dieser Zeit beim Militär aus fehlender Motivation einen Arzt aufgesucht hätte. Der Milzriss wäre bereits in der selben Nacht ansonsten tödlich gewesen. Das erste Auto wurde etwas später durch mehrere Überschläge in einem abschüssigen Waldgebiet geschrottet während Hans wiederum ausstieg und erst am nächsten Tag – alkoholbedingt  ohne jegliche Erinnerung – von seinem Glück erfuhr. Das zweite Auto – ein Golf GTI – wurde beim Versuch eines Sprungs über eine Kuppel ebenfalls Altmetall. Auch hier grinste Hans bereits eine Minute später aus dem Auto. Das Alter brachte Hans nur bedingt zur Vernunft. So versuchte er in der Lebensmitte eine jüngere Frau zu beeindrucken und machte mit seinem Motorrad einen sehenswerten Wheelie. Entweder war der Wheelie aber zu lang oder die Strecke zu kurz, es endete nach wenigen Sekunden an einer Betonmauer. Wie durch ein Wunder blieb er beinahe unverletzt. Als er erst vor kurzem im 57. Lebensjahr mit einem Fallschirm aus einem Flugzeug sprang und dieser nicht öffnete, schloß er mit seinem Leben ab. Zuerst fingen ihn die Äste einer Tanne etwas ab und am Ende mehrere Brombeersträucher und auch hier blieben nur leichte Verletzungen. „Was habe ich denn für ein Glück!“, schrie er vor Freude. Er hatte zwar mit keiner Antwort gerechnet, aber diese kam scheinbar aus der Tanne: „Du hast wohl schon einiges erlebt!“. Hans freute sich über Gesellschaft und schien sich auch nicht weiter über eine sprechende Tanne vorerst zu wundern. „Ja, da könnte ich ein paar gute Geschichten erzählen“, meinte Hans lächelnd. „Aber das ist kein Glück, Hans. Glück gibt es nicht in dieser Häufigkeit“, klärte ihn die Tanne auf. „Wer bist du eigentlich?“, wollte Hans nun doch wissen. „Ich bin ein alter Freigeist, der sich in einer Tanne zur Ruhe gesetzt hat“, meinte die Tanne, „und du bist auch ein Freigeist wie ich“. „Ja, das mag schon sein, aber was hat das mit dem Glück auf sich?“, wollte Hans ganz genau wissen. „Im Himmel war man der Meinung, dass auf der Erde es viel zu wenig Freigeister gibt und daher werden diese immer erst sehr spät abberufen“, gab sie Hans zur Antwort. Hans war sehr glücklich und wußte, dass all die Hürden und Widerstände in seinem bisherigen Leben als Freigeist nun endlich einen Sinn ergeben. Als Weltbürger verfasste er Leserbriefe  ganz nach dem Motto „viel Feind, viel Ehr“, pfiff auf die Meinung der Nachbarschaft als er die achte Ehe geschlossen hatte und verließ zufrieden seinen Arbeitgeber für immer, nicht ohne ihm vorher zu sagen, er wäre ein Ameisentätowierer und Ritter der Schwafelrunde.

Harald, 7. Juni 2024.

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