Wo Flügel fliegen, schwächelt die Gerechtigkeit

Als ich einmal mit einer Waffeltüte voller Pistazieneis durch Mannheim schlen­derte, spürte ich plötzlich einen Luftzug über mir und trat instinktiv einen großen Schritt zur Seite. Sekundenbruchteile später schlug ein Konzertflügel neben mir auf und zerbarst krachend in seine Einzelteile.

„Da haben Sie aber einen Schutz­engel gehabt!“, rief ein Herr mittleren Alters, der in dem Hauseingang stand, vor dem sich der Vorfall ereignete. „Die alte Hugendubel hasst nämlich Pistazieneis. Mit ihrer feinen Nase wittert sie es bis in den fünften Stock!“

Ich blickte hinauf und sah noch, wie oben auf dem Balkon eine knochige Faust geschüttelt und gleich darauf zurückgezogen wurde.

„Das gibt ihr aber keineswegs das Recht, mir einen Flügel auf den Kopf zu schmeißen!“, rief ich. „Das war versuchter Mord! Ich werde Anzeige erstatten!“

„Das wird Ihnen nichts helfen!“, erwiderte der Herr im Hauseingang. „Die alte Hugeldubel ist eine ehemalige Gerichtspräsidentin und kennt die Justiz aus dem Effeff und zieht immer noch im Hintergrund die Strippen. Wenn sie es wünscht, landet jede Klage sofort in der Rundablage P.“

„Das werden wir ja sehen!“, schnaub­te ich, stopfte mein Pistazieneis, auf das mir die Lust vergangen war, durch einen metallenen Rost in die Kanalisation und ging meines Weges.

In der nächstbesten Bäckerei, aus der es verführerisch duftete, gönnte ich mir zum Trost ein Schokoladencroissant.

Ich schlenderte einigermaßen besänftigt weiter durch Mannheim. Als ich abermals einen Luftzug über mir spürte, sprang ich wieder zur Seite. Mit noch größerer Wucht als beim ersten Mal donnerte von oben ein Konzertflügel haarscharf an mir vorbei und zerschellte auf dem Asphalt.

„Da war Ihr Schutzengel aber hellwach“, rief eine Frau mittleren Alters aus dem Hausein­gang. „Die alte Hugeldubel kann nämlich Schokocroissants nicht ausstehen. Mit ihrer feinen Nase riecht sie sie bis hinauf in den sechsten Stock.“

„Moment!“, er­hob ich Einspruch. „Diese Nummer hatten wir schon! Die alte Hugendubel wohnt ein paar Straßen weiter und hasst Pistazieneis!“

„Da oben wohnt ihre Zwillings­schwester“, sagte die Frau lächelnd. „Auch sie war einmal Gerichtspräsidentin und zieht nach wie vor im Hintergrund in der Justiz die Fäden. Anzeige oder Kla­ge können Sie sich also gleich abschminken.“

„Was ist das bloß für eine Stadt!“, rief ich verzweifelt. „Man schwebt beim Naschen ständig in Lebensgefahr!“

„Sie könnten sich zumindest bei Ihrem Schutzengel bedanken“, riet mir die Frau, „und ihn bei Laune halten.“

„Gute Idee!“, pflichtete ich ihr bei. „Schutzengel, wenn es dich gibt, lass dich anschauen und drücken!“

Vor mir zischte und rauch­te es. Aus dem Dunst stieg plötzlich ein sehr attraktiver junger Mann mit wallen­dem blondem Haar.

„Sehr angenehm!“, sagte er. „Ich bin Oliver, dein persönli­cher Beschützer.“

„Dämlicher Name für einen Engel“, sagte ich. „Weil du mich aber schon zweimal davor bewahrt hast, dass mir ein Konzertflügel auf den Schä­del donnert, will ich darüber hinwegsehen. Lass dich umarmen!“

„Vielleicht“, sag­te Oliver ohne die geringste Gemütsregung, „solltest du deine Naschereien etwas intelligenter wählen.“

Er ließ es geschehen, dass ich meine Arme um seinen Leib schlang und ihm mit den Handflächen anerkennend auf die Flügel klopfte.

Der Frau im Hauseingang, der der Mund weit offen stand, schärfte ich ein, keiner Men­schenseele etwas von dem zu erzählen, was sie gerade beobachtet hatte. Ich schenkte ihr das angebissene Schokocroissant. Dann zog ich weiter, während Oli­ver allmählich wieder dematerialisierte.

Alsbald kam ich an einer Konditorei vor­bei, in deren Schaufenster ich die richtigen Süßigkeiten für mich entdeckte: Mu­sikinstrumente aus Marzipan. Ich erstand einen Marzipankon­zertflügel, in des­sen Tastatur ich herzhaft biss, während ich wieder durch Mannheim zu flanieren begann. Mein Schutzengel Oliver konnte zufrieden sein.

Diesmal spürte ich den Luftzug über mir um einen Tick zu spät. Ein Schokocroissant klatschte mir auf die Schulter und eine Waffeltüte mit Pistazieneis erwischte mich mitten auf der Stirn. Ich brach in lautes Gelächter aus. Das war vielleicht ein Fehler.

Plötzlich sprang mir nämlich von einem Balkon im Erdgeschoss eine Alte an die Gurgel, riss mich zu Boden, entwand mir den Marzipanflügel und stopfte ihn durch die kreisrunden Löcher im nächstbesten Gullideckel in die Kanalisation.

„Lassen Sie mich raten!“, rief ich aufgebracht. „Sie heißen Hugendubel und haben zwei Dril­lingsschwestern und hassen Klaviere, egal aus welchem Material sie be­ste­hen! Und weil Sie früher einmal Gerichtspräsidentin waren und immer noch gro­ßen Einfluss auf die Justiz haben, ist es völlig aussichtslos, dass ich Sie verklage, weil Sie mich eben zu Tode erschreckt haben.“

„Stimmt genau!“, bestätigte die Alte mit vor Erstaunen weit aufgerissenen Augen. „Woher aber wissen Sie das alles?“

„Na, hören Sie mal!“, sagte ich. „Es ist immerhin meine Geschichte, in der wir uns hier befinden. Da ist es doch nur recht und billig, wenn ich am Ende ein bisschen mehr weiß als die anderen.“

Ich spürte, wie mich mein unsichtbarer Schutz­engel anerkennend ins Gesäß zwickte.

Michael, 30. August 2024

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