Edgar, der eine Lehre zum Klebstofftechniker absolviert hatte und als Gesellenstück aus natürlichen Baumharzen einen humanverträglichen Kleber komponieren sollte, begab sich in einen naturbelassenen Wald im französischen Zentralmassiv, in dem besonders viele geeignete Baumarten vermutet wurden.
Er schröpfte Erlen, melkte Robinien, schälte Akazien, drainagierte Birken und zapfte Kastanien an. Die derart gewonnenen Säfte und Harze mischte Edgar in einem speziellen Behältnis, das er in seinem Rucksack mit sich trug. An dem Gefäß befand sich in Bodennähe ein kleiner Hahn, mittels dessen Proben der erzeugten Mischung entnommen werden konnten, die Edgar auf seine Haut auftrug, um Verträglichkeit und Adhäsionskräfte zu bestimmen.
Wie auch immer er aber die Beimengung einzelner Harze oder deren Mengenverhältnisse veränderte, gelang es ihm dennoch nicht,sich aus den von ihm hergestellten Substanzen einen Kleber zu kreieren, der als Gesellenstück taugte. Entweder klebten die entstandenen Stoffe nicht befriedigend oder verursachten schwere Hautirritationen.
Als Edgar schon aufgeben und seine Zelte abbrechen wollte, um der Klebstofftechnik zu entsagen und stattdessen eine Laufbahn als Moraltheologe einzuschlagen, erschien ihm plötzlich mitten in der Natur in einem Dickicht ein Popanz, der ihm seine Hilfe anbot.
„Du suchst nach einem Klebstoff“, sagte der Popanz. „Ich könnte dir helfen. Ich weiß, was deinem Gemisch fehlt.“
„Ach ja?“, antwortete Edgar schon ein wenig dünnhäutig und schnippisch. „Ich bin skeptisch, aber lass deinen Vorschlag hören!“
„Du brauchst das Harz der querholzenden Dickbuche und eine Motorsäge.“
„Eine Motorsäge habe ich dabei“, sagte Edgar. „Wo finde ich also deine Dickbuche? Einen Versuch ist es mir ja wert!“
„Querholzende Dickbuche“, betonte der Popanz. „Das ist wichtig!“
„Meinetwegen“, seufzte Edgar. „Wo also?“
„Komm mit!“, sagte der Popanz und schwebte voran. Er führte Edgar über Stock und Stein, bis er endlich an einem an sich unscheinbaren Baum hielt, den Edgar als eine Buche identifizierte.
„Beachte das Querholz“, sagte der Popanz. „Das sind die dichten Äste in Bodennähe, die horizontal wachsen.“
„Und was mache ich jetzt?“, fragte Edgar.
„Ganz einfach“, erklärte der Popanz. „Du legst dich zwischen zwei quer wachsende Äste, hältst die Motorsäge im Anschlag, startest sie und säbelst behutsam mit der rotierenden Kette die oberste Rindenschicht ab, bis das Buchenharz zu tröpfeln anfängt. Es besitzt exakt die Eigenschaften, die du für deinen Klebstoff noch brauchst. Sei aber vorsichtig, es ist gefährlich!“
Edgar befolgte die Anweisungen des Popanzes genau. Er zwängte sich zwischen zwei Äste, startete die Säge und wollte gerade mit der Abtragung der Rinde beginnen, als er abrutschte und sich mit der Motorsäge seine Nase vollständig wegschnippelte.
Geistesgegenwärtig und nicht auf den Schmerz achtend, der ihm einschoss, ließ er ein wenig Harz in das Gefäß tropfen, das er vorbereitet hatte, vermengte es mit der Mischung, die dort schon vorhanden war, öffnete den Hahn, schmierte sich einen Batzen Klebstoff auf die in seinem Gesicht klaffende Wunde, pappte die Nase darauf und drückte sie fest.
Das Wunder trat ein. Die Nase verband sich wieder mit dem Gesicht und funktionierte ohne sichtbare Narben genauso gut wie vor Edgars Missgeschick. Edgar bedankte sich überschwänglich bei dem Popanz, der ihm den entscheidenden Tipp gegeben hatte.
„Dank deiner Hilfe“, rief Edgar, „habe ich den geforderten humanverträglichen Klebstoff gefunden, der von mir verlangt wurde! Nun steht meiner Erhebung in den Gesellenstand nichts mehr im Weg!“
Er küsste den Popanz auf die Stirn und verließ den Wald.
Weil sich jedoch wenig später herausstellte, dass der von Edgar komponierte Kleber ausschließlich bei Nasen funktionierte, die ihr Besitzer sich zuvor mit einer Motorsäge abgeschnitten hatte, wurde Edgar der Gesellenbrief am Ende doch verweigert. Nach einiger Zeit des Haderns und des Nase Rümpfens begann Edgar ein geistliches Studium und wurde schon wenige Jahre später ein gefragter Moraltheologe.
Michael, 27. September 2024
Vom Klebstofftechniker zum Moraltheologe. Das nenne ich Karriere machen. Die Klebstofftechnik scheint ein Sprungbrett zu sein.
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