Nach langen, ermüdenden Jahren in der Zivilisation habe ich mich auf der Suche nach Ruhe in die Einsamkeit der Natur zurückgezogen und eine bescheiden dotierte Stelle als Wildhüter auf Lebenszeit angenommen. Mein Revier liegt am nördlichen Ende der bewohnten Welt; dahinter tut sich in Richtung Norden nur noch unberührte Wildnis auf, die von kargem, kniehohem Gestrüpp bewachsen und kalt und unwirtlich ist. Meine bescheidene Kate ist in dieser Gegend der letzte menschliche Außenposten.
Doch auch hier im äußersten Norden will leider niemals Ruhe in meine Behausung einkehren. Heute stehen zwei Hausierer vor meiner Tür, die aufdringlich Tütensuppen anpreisen.
„Was soll ich denn mit Tütensuppen anfangen, meine Herren?“, rufe ich einigermaßen ungehalten. „Sie hätten sich die weite, beschwerliche Reise hier herauf sparen können! Die ganze Gegend hier ist von Rehen und Hirschen bevölkert, die ich mir bei Bedarf schieße und dann über einem offenen Feuer saftig brate!“
„Mit Verlaub!“, wendet einer der beiden Hausierer ein. „Ich gebe zu bedenken, dass auf jeden Sommer wieder ein Winter folgt, in dem das Wildschießen ja allerorts untersagt ist.“
„Dieses Revier ist mein Revier auf Lebenszeit!“, antworte ich erregt. „Wissen Sie, meine Herren, wer in diesem Revier die Gesetze macht? In diesem Revier mache ich die Gesetze! Ich allein bestimme, wann hier das Wild geschont werden muss!“
Ich trete hinaus ins Freie und ziehe die Tür hinter mir zu. Ich versuche grimmig dreinzusehen, doch die Hausierer lassen sich von meinem Gesichtsausdruck nicht beeindrucken; ich hätte es mir gleich denken können, dass die modernen Hausiererschulen das Ignorieren von Gesichtsausdrücken lehren.
„Gesetze müssen natürlich befolgt werden! Aber es gibt ja, dem Himmel sei Dank, nicht nur Gesetze im Leben. Es gibt auch ein Leben zwischen den Gesetzen! Abwechslung heißt darin die Devise!“, ruft einer der beiden Hausierer aus. „Abwechslung bringt Farbe ins Leben! Heute ein Reh, übermorgen ein Hirsch und dazwischen eine Tütensuppe! Gewiss sind Rehe und Hirsche das Schmackhafteste, was man sich nur vorstellen kann! Und doch liegt auch in der Besonderheit des lediglich Wohlschmeckenden ein nicht zu unterschätzender Reiz! Dem Schmackhaftesten muss gleichsam zuerst der Weg geebnet werden! Der Genuss unserer Tütensuppen wärmt zudem den Magen vor, macht ihn geschmeidig und bereit für die Aufnahme des saftig gebratenen Wildbrets!“
Ohne Vorwarnung trete ich dem anderen Hausierer, der bisher geschwiegen hat, angriffslustig auf die Schuhspitze und schrecke auch nicht davor zurück, dem Mann dabei ordentlich die Zehen zu quetschen. „Was sagen Sie dazu, Tütensuppenmann?“, rufe ich. „Das ist Ihnen wahrscheinlich noch nie widerfahren, dass Ihnen einer noch während des Verkaufsgeschwafels auf die Zehen getreten ist, oder?“
„Das Tütensuppenvertreiben ist ein Leidenshandwerk!“, antwortet mir der Mann erstaunlich gelassen. „Natürlich hat es niemand gern, wenn einem einer ohne Vorwarnung absichtlich auf den Fuß steigt, und gewiss schmerzen jetzt meine Zehen, aber es ist eine Lappalie im Vergleich zu anderen Boshaftigkeiten, denen wir uns andernorts bei unserer Tütensuppenvertriebstätigkeit bereits aussetzen mussten!“
„Das auf die Zehen Treten ist auch nur eine Boshaftigkeit ersten Grades!“, gebe ich zurück. „Als nächstes folgt das mit einer Mistgabel in die Zehen Stechen!“ Mit einem Mal werden die Blicke der beiden Männer so traurig und demütig, dass mich meine Angriffslust ein wenig zu reuen beginnt.
„Wenn Sie mir versprechen, dass Sie damit aufhören, mir ihre Tütensuppen um jeden Preis aufnötigen zu wollen“, sage ich, „dann werde ich Sie ein wenig in meine Arbeit als Wildhüter einführen, damit Sie einen Eindruck von meiner Tätigkeit bekommen. Einverstanden?“
Die beiden Männer tauschen ein paar kurze Blicke aus. „Einverstanden!“, rufen sie dann beinahe gleichzeitig. Ich ergreife gleich wieder die Initiative: „Damit jeder von uns weiß, mit wem er es zu tun hat, sollten wir uns nun einander vorstellen. Das bildet gegenseitiges Vertrauen.“
Die beiden Männer nicken. „Dann mache ich den Anfang“, setze ich gleich fort, „ich heiße Jakob Frost und bin, wie Ihnen beiden ja nun schon hinlänglich bekannt ist, hier der Wildhüter. Da ich auf Lebenszeit berufen bin, wie ich auch bereits erwähnt habe, führt in dieser Gegend kein Weg an mir vorbei.“
„Ich bin Vittorio Morello“, erklärt daraufhin der Tütensuppenmann, dem ich vorhin auf die Zehen getreten bin, „und stamme, wie schon mein Name verrät, aus Italien, genauer gesagt aus Apulien. Uns Morellos liegt das Tütensuppenverkaufen im Blut. Bereits mein Urgroßvater übte diesen Beruf mit allergrößter Leidenschaft aus.“
„Dann mache ich also den Abschluss“, ruft der andere Tütensuppenmann, „ich heiße eigentlich Heinrich Nagler, werde aber von allen immer nur „der Nagel“ gerufen. Als Zeichen meines guten Willens würde ich auch Sie, Herr Frost, ermutigen, mich so zu nennen.“
Ich trete verunsichert von einem Fuß auf den anderen und frage mich insgeheim, ob es wirklich angebracht war, dass ich mich so schnell und beinahe kampflos auf die Tütensuppenmänner eingelassen habe. Andererseits ist es die meiste Zeit wirklich sehr einsam in meiner kalten Wildhüterumgebung, und wenn ich es geschickt anstelle, kann ich aus der Anwesenheit der Tütensuppenmänner durchaus Vorteile für mich ziehen.
„Gut, gut“, sage ich also jovial zum Nagel. „Herrn Morellos Familie ist also dem Tütensuppenverkauf aufs Innigste verbunden. Bei Ihnen, Nagel, verhält es sich wohl ähnlich, wie ich vermute?“
„Nein, keineswegs!“, wehrt der Nagel ab. „Ich wurde erst durch eine Umschulung zum Tütensuppenmann!“ „Und was waren Sie vor der Umschulung?“, hake ich nach. „Davor war ich für die Zeugen Jehovas tätig“, gibt der Nagel zur Antwort. „Über diese Zeit möchte ich jedoch kein weiteres Wort verlieren.“
„Dann kommen Sie doch einfach mit, meine Herren!“, schlage ich vor. „Ich habe nämlich vorhin einen kapitalen Bock geschossen! Der muss nun rasch aufgebrochen und ausgenommen werden. Das wollte ich gerade in Angriff nehmen, als Sie mich herausgeklopft haben. Nun können Sie mir doch gewiss ein wenig dabei zur Hand gehen, oder?“
In Morellos Augen sehe ich Entsetzen, ich bin mir sofort sicher, dass er noch nie ein Wild aufgebrochen oder ein anderes Tier ausgenommen hat. „Ich kann kein Blut sehen“, murmelt er schnell, „wo Blut fließt, muss ich mich auf der Stelle hinlegen.“ Ich nicke verständnisvoll. „Ich kann uns aber völlig unverbindlich eine kräftige Tütensuppe kochen“, schlägt Morello vor, „falls Sie einen Kessel besitzen. Dann muss ich nicht untätig herumstehen, während Sie sich um den Bock kümmern.“
„Bringen wir es hinter uns!“, ruft der Nagel. „Wo haben Sie denn den Bock?“ „An der Rückseite meiner Kate befindet sich ein Holzgestell.“, sage ich. „Dort habe ich den Bock bereits aufgehängt.“
Zu Morello sage ich: „Im Inneren meiner Behausung steht gleich hinter der Tür ein großer kupferner Kessel. Das Dreibein ist auch dabei.“ Morello nickt, stellt den Rucksack mit seinen Tütensuppen auf den Boden und schickt sich an, den Kessel und das Dreibein zu holen. „Brennholz finden Sie auch an der Rückseite meiner Kate“, füge ich noch hinzu, „ordentlich gestapelt an der Wand. Bedienen Sie sich reichlich, ich mag die Suppe gerne heiß.“
Morello erweist sich als kräftig und schleppt scheinbar ohne Anstrengung den schweren Kessel hinter die Hütte. Der Nagel und ich bewegen uns auch dorthin. Dann holt Morello noch das Dreibein aus der Hütte und stellt es gleich recht geschickt in unmittelbarer Nähe zu dem Holzgestell auf, an dem der Bock befestigt ist. Er achtet allerdings darauf, dass zwischen Dreibein und Holzgestell so viel Zwischenraum übrig bleibt, dass er dort bequem mit dem Rücken zum Holzgestell an dem Dreibein seine Kocharbeit verrichten kann und so nicht mit ansehen muss, wie der Nagel und ich den Bock aufbrechen. Morello sucht sich aus dem akribisch aufgeschichteten Brennholzstapel ein paar schöne Scheite heraus und häuft sie unter dem Dreibein auf.
„Wir werden noch eine zweite Feuerstelle für das Wild benötigen, vermute ich“, wendet sich der Nagel mit fragendem Blick an mich. „Natürlich“, sage ich und stelle mich vor den Bock hin, „ein Suppenfeuer bleibt ja immer ein Suppenfeuer und kann nicht plötzlich als Wildfeuer dienen.“
Ich widme mich wieder dem Bock. Die Schnitte an den Hinterläufen zwischen den Knöcheln und den Achillessehnen hatte ich schon gesetzt, bevor Morello und der Nagel mit ihren Suppen bei mir vorsprachen, danach hatte ich den Bock mit zwei Haken durch die Hinterläufe an den Aufbrechbalken an mein Holzgestell gehängt. „Nagel!“, rufe ich. „Haben Sie schon einmal einem Bock die Bauchdecke geöffnet? Dazu bedarf es eines feinen Schnittes!“
Der Nagel tritt neben mich und nickt tapfer, doch in seinen Augen sehe ich, dass auch seine Erfahrungen mit der Wildbretversorgung marginal sein müssen. Ich will jedoch den Nagel, für den ich insgeheim Sympathien zu entwickeln beginne, nicht bloßstellen. Aus diesem Grund sage ich zu ihm: „Ich zeige Ihnen, wie wir hier im hohen Norden den Schnitt in die Bauchdecke setzen! Dann können Sie vergleichen!“
Der Nagel nickt ein weiteres Mal, und ich spüre, dass er sich übergeben wird, sobald ich dem Bock die Bauchdecke öffne.
Mit einer theatralischen Geste tue ich so, als ob mir plötzlich etwas Wichtiges eingefallen wäre. „Nagel!“, rufe ich ihm zu. „Sie hätten mir widersprechen müssen! Es wäre doch gar nicht klug, wenn wir dem Bock jetzt schon zu Leibe rückten, ehe wir nicht die Suppe ausgelöffelt haben! Denn vielleicht sind wir nach dem Verzehr der Suppe bereits so gesättigt, dass wir von dem gebratenen Wildbret keinen Bissen mehr zu uns nehmen können!“
Der Nagel nickt zustimmend, diesmal weit bedächtiger als vorhin, und ich kann seine Erleichterung beinahe riechen. Ich trete zu ihm hin und klopfe ihm aufmunternd auf die Schulter. „Darum sollten Sie jetzt Morello zur Hand gehen, Nagel!“, schlage ich vor. „Damit die Suppe wirklich gut gelingt!“
Der Nagel beeilt sich, meinen Vorschlag aufzugreifen, dreht sich um und gesellt sich zu Morello, der es immer noch nicht geschafft hat, unter dem Kessel ein anständiges Feuer zu entfachen.
„Ich werde den Bock nun abnehmen“, sage ich zu den beiden Tütensuppenmännern, „und ihn in mein Schneeloch gleich dort hinten am Waldrand werfen. Dort verwahre ich alle meine Vorräte. Das Loch verschließe ich dann mit Steinen, sodass meine Vorräte vor tierischen Räubern stets sicher sind!“
Während ich den Bock aushake und anschließend schultere, schaffen es der Nagel und Morello mit vereinten Kräften, dass das Feuer unter dem Topf endlich beständig zu flackern beginnt. Als ich vom Schneeloch zurück komme, höre ich bereits Wasser im Kessel brodeln. „Na, meine Herren,“ sage ich gut gelaunt zu meinen beiden Gästen und werfe einen Blick in den Kessel, „ich bekomm heute wohl eine Suppe für zarte Gaumen und für empfindliche Mägen vorgesetzt? Ich seh’s schon dampfen und kann doch noch gar nichts riechen von der Suppe!“
„Geduld, Herr Frost, Geduld“, beschwichtigt mich Morello, und ich merke, dass Nagel und er bei ihrer jetzigen Tätigkeit ihre verloren gegangene Souveränität wieder erlangt haben. „Es ist noch gar kein Pulver in der Suppe. Der Nagel wird es nun behutsam einwerfen, während meine Wenigkeit durch sorgfältiges Rühren das ihre zu einem guten Gelingen des Gerichts beitragen wird.“
Der Nagel macht sich daraufhin gleich an seinem großen Rucksack zu schaffen, dem er einen von einem Gummiband zusammengehaltenen Pack Suppentüten entnimmt. Er prüft jede einzelne Tüte, da er offensichtlich auf der Suche nach etwas ganz Bestimmtem ist. Ich höre ihn in alphabetischer Reihenfolge Geschmacksrichtungen murmeln, wobei er aber immer leiser wird.
„Was wollen Sie uns auftischen, Nagel?“, frage ich ihn schließlich schon einigermaßen ungeduldig.
„Lassen Sie sich überraschen, Herr Frost!“, gibt der Nagel zur Antwort und grunzt dann zufrieden. „Jetzt hab ich es endlich gefunden!“
Triumphierend schwenkt er eine große braune Suppentüte, die sich aufs erste Hinsehen nicht von den anderen Tüten zu unterscheiden scheint. Der Nagel reißt die Tüte energisch auf, kippt sich immer wieder ein Häufchen Pulver in die hohle Hand und wirft es dann gleich darauf in das brodelnde Wasser, das Morello mit einem langen, schlanken Stecken gleichmäßig und geduldig umrührt.
Schließlich breitet sich doch ein vertrauter Tütensuppengeruch aus. Morello rührt zum Abschluss noch ein paar Mal besonders kräftig um, während die Suppe schon schmatzende Blasen wirft.
„Fertig!“, ruft der Nagel einige Augenblicke später. „Jetzt können wir essen!“
Behutsam nimmt er den Kessel vom Dreibein und stellt ihn auf die harte, gefrorene Erde direkt neben meiner Kate.
Wie nicht anders zu erwarten war, führen die beiden Tütensuppenmänner alle für eine erfolgreiche Suppenverkostung nötigen Gerätschaften in ihrem Rucksack mit sich: Der Nagel zieht drei kleine Suppenschüsseln aus Kunststoff, drei Löffel und eine Schöpfkelle hervor. Eine der Schlüsseln drückt er mir in die Hand, die beiden anderen hält er selbst bereit. Morello nimmt die Kelle an sich, taucht sie in den Kessel und schöpft uns reichlich Suppe in unsere Schüsseln.
„Nun kosten Sie von der Suppe, Herr Frost!“, ermuntert mich der Nagel und reicht auch Morello eine Schlüssel. „Und dann verraten Sie uns umgehend, wie es ihnen schmeckt.“
Zögernd tauche ich den Löffel in die heiße Suppe. Dann führe ich ihn langsam zum Mund, sauge die heiße Flüssigkeit mit einem Schlürfgeräusch ein und prüfe sie mit der Zunge. Ich bin überwältigt. Der Geschmack ist schier unvergleichlich.
„Meine Herren!“, rufe ich erstaunt aus. „Noch nie zuvor in meinem Leben habe ich etwas derartig Wohlschmeckendes zu mir nehmen dürfen! Ich bin geradezu beglückt! Nun eröffnen Sie mir doch bitte auf der Stelle, was das für eine Suppe ist, die Sie mir da kredenzt haben!“
Morello und der Nagel haben in der Zwischenzeit ebenfalls mit dem Auslöffeln ihrer Suppen begonnen. Morello legt seinen Löffel beiseite und liest mir lächelnd vor, was auf der Packung steht: Legierte Wildsuppe mit Reh- oder Hirschgeschmack.
Heißhungrig leere ich meine Schüssel und erbitte zahlreiche Nachschläge, die mir jedesmal gewährt werden, bis endlich der Boden des Kessels sichtbar wird. Seufzend und mit wohliger Wärme im Bauch bitte ich Morello und den Nagel danach ins Innere meiner Kate. Drinnen nehme ich meine Gitarre von der Hutablage an der Wand und stimme spontan ein verspätetes Loblied auf die Zivilisation an. Morello und der Nagel singen ebenso spontan die Oberstimmen dazu.
Michael, 23. Mai 2025
Da hat’s wohl einige Packerl Buchstabensuppe gebraucht
LikeLike