Als Pater Abortus einmal sonntags mit Grippe das Bett hüten musste, empfing Hilmar die Heilige Kommunion aus der Hand von Schwester Klamydia, die den Geistlichen vertrat, der die Wandlung schon vorab in seinen Privatgemächern vorgenommen hatte.
Hilmar schob sich den Leib Christi in den Mund, biss wie immer fest zu und spürte plötzlich einen stechenden Schmerz, der ihn zuerst zusammenzucken und hernach zu Boden gehen ließ. Schwester Klamydia reagierte geistesgegenwärtig, stellte die Hostienschale zurück auf die Mensa und beugte sich hinunter zu Hilmar.
„Kann ich dir helfen, Hilmar?“, fragte sie. „Ist dir nicht gut?“
Der Angesprochene spuckte zwei blutige Schneidezähne auf den Boden.
„Ob mir nicht gut ist?“, rief er. „Ich habe mit am Leib des Herrn zwei Zähne ausgebissen und du fragst mich, ob mir nicht gut ist?“
„An einer Hostie?“, fragte die Schwester ungläubig. „Das halte ich für unmöglich. Zeig mir, worauf du gebissen hast.“
Hilmar wies verächtlich auf den Boden.
„Da liegt der gemeingefährliche Rest!“
Schwester Klamydia hob das Hostienstück auf und nahm es genauer in Augenschein.
„In diese Hostie ist etwas eingebacken“, sagte sie. „Eine Art kreisrunde Metallplatte.“
Sie zog das Plättchen aus dem Gebäck und hielt es gegen das Licht.
„Eine Münze?“
„Das ist ein Silberling!“, rief Hilmar aufgebracht. „Ich habe auf einen verdammten Silberling gebissen!“
„Wie um alles in der Welt“, sagte Schwester Klamydia, „sollen Silberlinge in unsere Hostien gelangen?“
„Diese Frage muss uns Pater Abortus beantworten“, sagte Hilmar. „Außerdem muss mir die Kirche für neue Zähne aufkommen! Wo steckt unser Seelenhirte eigentlich?“
„Er darf unter keinen Umständen gestört werden“, sagte die Schwester. „Er hütet nämlich mit Grippe das Bett.“
„Ausgezeichnet!“, rief Hilmar. „Ich werde ihn fragen, ob er auch noch einen Silberschatz hütet.“
„Ich werde nicht zulassen“, sagte Schwester Klamydia, „dass Pater Abortus belästigt wird!“
Hilmar schob sie unsanft zur Seite.
„Ich werde ihn nicht belästigen, versprochen!“
Er machte sich auf den Weg zum Pfarrhaus, wo er die Eingangstür unversperrt vorfand. Schwester Klamydia folgte ihm in geringem Abstand und stieß dabei stetig lauter werdende Seufzer aus. Hilmar, der sich im Pfarrhaus auskannte, weil er dort in der Vergangenheit die elektrischen Leitungen erneuert hatte, steuerte Pater Abortus‘ Schlafzimmer an und trat ein, ohne vorher anzuklopfen.
Selbst für Hilmar, der den Pater bei weitem nicht so intim kannte wie Schwester Klamydia, sah der Geistliche ungewöhnlich haarig aus.
„Er sollte sich als erstes dringend rasieren“, raunte Hilmar seiner Verfolgerin zu, die neben ihn ans Bett getreten war. „Dann wird er sicher rasch wieder gesund.“
„Um Himmels Willen!“, kreischte die Schwester und schlug entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen. „Das ist nie und nimmer Pater Abortus!“
„Wer bist du, haariger Gesell?“, rief Hilmar, „und was hast du mit unserem Seelsorger angestellt?“
„Ich bin der große böse Wolf!“, brummte der pelzige Kerl im Bett. „Den, der vorher hier gelegen hat, den habe ich gefressen! Jetzt bin ich satt und müde und will verdauen!“
Schwester Klamydia und Hilmar, die beide nicht an Märchen glaubten, wussten dennoch, dass der Wolf die Wahrheit sprach.
„Wir lassen ihn schlafen“, zischte Schwester Klamydia. „Währenddessen holen wir den Jäger.“
Hilmar nickte.
„Alles klar, Wolf!“, sagte er dann mit betont lauter Stimme. „Wir wollen dich nun nicht länger stören und wünschen dir angenehme Träume.“
Er zupfte Klamydia am Ärmel und zog sie hinaus in den Vorraum, wo sich auch der vorsintflutliche Telefonapparat befand. Die Schwester wählte die Nummer des Jägers.
„Ja, Waldemar, ja“, sagte sie. „Ein ausgewachsener Wolf. Es ist ein Notfall! Du musst sofort kommen. Ich bitte dich inständig!“
Sie legte auf.
„Und?“, fragte Hilmar. „Wird er uns helfen? Ich habe nämlich höllische Schmerzen im Mund.“
„Er ist in zehn Minuten hier“, sagte Klamydia.
Der Jäger hielt Wort. Er betrat schnaufend den Vorraum und zog sich gleich den Riemen seiner mächtigen Büchse von der Schulter.
„Du wirst ihn doch nicht sofort töten?“, fragte die Schwester bang. „Er hat doch Pater Abortus, der vielleicht noch lebt, in seinen Eingeweiden!“
„Keine Sorge!“, beschwichtigte der Jäger Waldemar. „Es ist bloß ein Betäubungsgewehr.“
„Wie gehen wir jetzt vor?“, fragte Hilmar. „Ich zähle auf drei“, erwiderte der Jäger, „dann reißt du die Tür auf und ich drücke ab.“
Hilmar nickte. Dann machten sie es genauso, wie der Jäger vorgeschlagen hatte. Bereits der erste Schuss saß. Sie warteten zur Sicherheit noch eine Weile. Waldemar nutzte die Gelegenheit, um seinen Hirschfänger zu desinfizieren, ehe er dem Wolf behutsam und gekonnt den Leib aufschnitt. Schwester Klamydia, die Verbandszeug herbeigeschafft hatte, assistierte.
Schon nach wenigen Schnitten hörten sie aus dem geöffneten Bauchraum ein gequältes Stöhnen.
„Pater Abortus!“, rief Klamydia erfreut. „Es ist wie ein Wunder!“
„Ja, ich lebe noch!“, seufzte Abortus und zwängte sich aus dem Verdauungstrakt des betäubten Raubtiers. „Gott sei gepriesen! Ich habe einen Vorgeschmack davon bekommen, wie es in der Hölle zugehen mag. Noch nie zuvor habe ich einen solchen Gestank und eine solche Enge erlebt!“
Der Jäger fuhr mit geübtem Griff noch einmal in den Bauchraum des Wolfes hinein und förderte noch einen Gegenstand zu Tage.
„Ein Säckchen?“, sagte Hilmar ungläubig. „Ob der Wolf es in seiner Gier mitverschlungen hat?“
„Ich nähe jetzt den Bauch wieder zu“, kündigte der Jäger an. „Dann wecken wir den Kerl wieder auf und klären, welche Bewandtnis es mit dem Säckchen hat.“
„Ich fürchte, das wird nicht notwendig sein“, sagte Pater Abortus, der sich mit einer Küchenrolle notdürftig abgewischt und gesäubert hatte. „In dem Säckchen sind Silberlinge. Ich habe sie vom Wolf bekommen.“
„Ich wette, es sind genau 29“, sagte Hilmar. „Ich werde nachzählen.“
„Nicht nötig“, seufzte Abortus. „Es sind in der Tat 29.“
„Es wäre hilfreich“, sagte Schwester Klamydia, „wenn Sie uns die ganze Geschichte erzählten, Pater.“
„Ich habe wohl gar keine andere Wahl“, sagte der Geistliche. „Da Sie mich gerettet haben, haben Sie ein Recht auf die Wahrheit.“
Plötzlich musste er heftig niesen und wurde von einem Hustenanfall geschüttelt.
„Verdammte Grippe“, rief Abortus. „Ich bin zu alledem ja auch noch krank.“
„Nichts gegen das, was ich ertragen muss“, rief Hilmar und zog seine Lippen auseinander, damit man die Beschädigungen an seinem Gebiss erkennen konnte. „Ich habe mir die Zähne ausgebissen an einem Silberling. Erzählen Sie also eine gute Geschichte.“
„Der Wolf kam zu mir“, begann Pater Abortus, „und teilte mir mit, dass er erlöst werden wollte. Das sei unmöglich, erwiderte ich ihm. Er sei doch bloß ein wildes Tier und als solches von einer Erlösung ausgeschlossen. Erlöst werden könnten nur bußfertige, reuige Menschen. Er sei doch mindestens genauso klug wie die meisten Menschen, sagte der Wolf, wenn nicht sogar noch klüger. Er habe sogar schon eine Idee, wie er erlöst werden wolle. Ich solle ihn am Sakrament der Heiligen Kommunion teilhaben lassen. Der Leib Christi werde schon für die gewünschte Erlösung sorgen. Er wolle mich für die gewünschte Gefälligkeit auch fürstlich entlohnen und mir ein Säckchen mit 30 Silberlingen überlassen. Das verkompliziere die ganze Angelegenheit, seufzte ich, wiewohl die Gemeinde eine solche Summe natürlich gut gebrauchen könnte. Die 30 Silberlinge seien im Gefüge der christlichen Religion aber leider extrem negativ besetzt. Sie müssten, damit sie keine böse Wirkung entfalteten, sehr sorgfältig ins Geschehen integriert werden. Das sei doch ganz leicht, behauptete der Wolf. Man müsse doch bloß einen der Silberlinge in eine Hostie einbacken, damit der Kommunikant, also er selbst, ihn zusammen mit dem geheiligten Leib zu sich nähme und ihn so von dem Bösen erlöste. Ich gab mich geschlagen und erklärte mich einverstanden, nahm einen der Silberlinge und erteilte unserer Hostienbäckerei einen entsprechenden Auftrag. Schwester Klamydia habe ich aber nichts von alldem erzählt. Schließlich erkrankte ich an Influenza und legte mich artig ins Bett, was zur Folge hatte, dass die Schwester die Hostienlieferung von der Bäckerei entgegennahm. Weil ich mich so elend fühlte, schlug sie mir vor, dass ich die Oblaten gleich im Schlafzimmer segnen und in den Leib Christi verwandeln sollte. Sie würde sich dann um die Verteilung an die Gläubigen in der Kirche kümmern. Um meiner raschen Genesung willen willigte ich ein. Ich sprach die geheiligten Worte und war dann froh, dass ich mich ausruhen konnte. Während aber die Schwester vorhin im Rahmen eines improvisierten Gottesdienstes die Hostien verteilte, tauchte der Wolf in meinem Schlafzimmer auf und forderte den vereinbarten Leib Christi auch für sich. Ich wollte ihn auf die Zeit nach meiner Genesung vertrösten und ihm einstweilen seine Silberlinge zurückgeben, er aber ließ nicht mit sich reden, geriet in Zorn und fraß mich kurzerhand auf. Das Gefressenwerden und der Aufenthalt im Gekröse des Raubtiers war das Unangenehmste, was ich je erlebt habe. Sie drei haben mich aber Gottseidank aus meiner aussichtslosen Lage befreit.“
„Gern geschehen“, murmelte Hilmar. „Sie schulden mir jedoch noch einen Satz neue Zähne.“
Der Pater nahm das Säckchen mit den Silberlingen, entlohnte den Jäger mit einer Münze, bedachte Schwester Klamydia mit einer weiteren und händigte die verbleibende Summe von 27 Silberlingen Hilmar aus.
„Das müsste genügen“, sagte Abortus. „Dafür bekommst du ein Spitzengebiss. Nun habe ich nur noch eine Bitte. Schafft dieses elende Raubtier von hier fort und legt es meinetwegen in den Wald. Ich muss mich endlich auskurieren.“
Hilmar, der Jäger und Schwester Klamydia packten den immer noch betäubten Wolf und schleppten ihn hinaus.
Pater Abortus rief ihnen noch nach: „Und steckt ihm im Wald noch eine Hostie ins Maul! Sonst steht er morgen wieder vor der Tür!“
Michael, 15. August 2025