Das Feuer der Jugend


„Es ist traurig“, sagte der blutjunge Nullender zu seinen Hirschkollegen, „dass un­sereins umso leichter abgeknallt wird, je mehr Verästelungen man aufweist an seinem Geweih.“

„Kismet“, seufzte der Leithirsch. „Das war schon immer so.“

„Das heißt also“, folgerte der Junghirsch, „je mehr Enden man hat, desto schnel­ler endet man. Das müssen wir ändern.“

„Und wie bitte“, knörte der Leithirsch, „sollen wir das anstellen, Herr Obergescheit?“

„Indem wir aufhören, sinnlos brunf­tig durch die Gegend zu röhren, um unsere Damen zu beeindrucken, und stattdessen etwas erfinden, was unsere Leben schützt.“

„Ach?“, fragte der Leit­hirsch skeptisch. „Was sollen wir Hirsche schon erfinden, was noch nicht erfun­den wurde?“

„Warum“, stellte der Nullender eine Gegenfrage, „warum werden wir abgeknallt? Weil man uns unsere Geweihe neidet, die man lieber an irgend­welche Hausfassaden tackert anstatt sie auf unseren Köpfen zu belassen.“

Im Ru­del erhob sich zustimmendes Gemurmel.

„Folglich“, erklärte der Jungspund und nutzte geschickt den Lauf, den er gerade hatte, „müssen wir etwas herstellen, das genauso aussieht wie unsere Geweihe! Und wollt ihr wissen, wie das geht? Ganz einfach! Wir drucken künstliche Geweihe mit 3D-Druckern, die wir selbst entwi­ckeln und bauen.“

Dieser Idee musste sogar der Leithirsch Anerkennung zollen.

„Genial!“, rief er und blies dem Nullender als Belohnung heiße Luft auf den Rü­cken. „Das machen wir! Ich habe einen Cousin, der in einer Firma bei einem ge­wissen Heribert Krickl arbeitet und uns dort die nötigen Bauteile besorgen kann!“

„Das ist alles schön und gut und die Bauteile von Heribert Krickl sind sicher die richtigen für unsere 3D-Drucker“, mengte sich Sherlock, ein alter, erfahrener Pflas­terhirsch in das Gespräch ein, „ich gebe jedoch zu bedenken, dass die Ab­neh­mer unserer gedruckten Geweihe, die Jäger, es als eine besondere Hetz und einen besonderen Kick empfinden, wenn sie uns eigenhändig abknallen. Ich weiß nicht, ob sie den Erwerb von Geweihen auf eine andere Art überhaupt akzeptie­ren würden. Und wenn ja, müssten wir ein Vertriebssystem aufziehen, Anzeigen und Werbung in sozialen Medien schalten, einen Webshop einrichten und die Einkäufer von Versandhäusern schmieren. Die Frage ist: Wollen wir uns das an­tun?“

Im Rudel erhob sich abermals Gemurmel.

„Du hast mit deinem Einwand recht“, räumte der Nullender ein. „Ich habe aber eine Lösung für dieses Problem. Wir drucken nicht bloß Geweihe, sondern ganze Hirsche, die wir im Wald an un­serer Statt aufstellen.“

„Genial!“, rief diesmal nicht nur der Leithirsch; vielmehr skandierte das halbe Rudel begeistert unentwegt das selbe Wort, während die an­dere Hälfte dem Nullender als Belohnung heiße Luft auf den Rücken blies, bis der Jungspund schwitzte wie ein Saunagänger.

Und so kam es, dass die Hirsche über den Cousin des Leithirsches erste Bauteile bei der Firma von Heribert Krickl be­stellten, die ersten 3D-Drucker zusammenbauten und eine Erfolgsgeschichte un­geahnten Ausmaßes einleiteten. Die Herstellung der künstlichen Hirsche funktio­nierte auf Anhieb; die Täuschung der Jägerschaft klappte von der ersten Sekunde an perfekt, was letztlich zur Folge hatte, dass seither in den Wäldern nur noch künstliche Hirsche geschossen werden, während die echten Hirsche in abgelege­nen Gebirgstälern ein glückliches und arbeitsames Leben führen.

Der einzige Wer­mutstropfen ist, dass Heribert Krickl, der durch die Lieferung der Bauteile für die 3D-Drucker (und auch für deren Nachschub) unermesslich reich gewor­den ist, mit seinem Geld rechtsradikale Parteien unterstützt, die nichts Gutes im Schilde führen.

Michael, 3. Oktober 2025

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