Speichelprobe

Irene Hopfer hatte dem Wunsch ihres Ehemannes, des Brauereibesitzers Igor Promillow, von dem sie seit Jahren getrennt lebte, mit Erleichterung entspro­chen. Sie sollten sich, hatte er vorgeschlagen, noch ein letztes Mal treffen, um sich scheiden zu lassen. Zuständig war das Bezirksgericht Vöcklabruck. Sie ver­einbarten einen Termin und waren nach einer Prozedur, die nicht länger als eine Viertelstunde dauerte, einvernehmlich auch auf dem Papier nicht mehr Mann und Frau. Weil sie beide mit der Bahn angereist waren, hatten sie danach noch ein wenig Zeit, bevor ihre jeweiligen Züge gingen. Irene schlug vor, dass sie sich jetzt, wo endgültig alles zwischen ihnen geregelt sei, gemeinsam ins Bahnhofs­wirtshaus setzten, um mit einem letzten Bier auf die getrennte Zukunft anzusto­ßen. Igor stimmte zu. Sie fanden einen Platz und kamen rasch miteinander ins Gespräch, fast wie in früheren Zeiten. Das Bier, das nicht aus Promillows Braue­rei stammte, schmeckte herrlich. Irene erwähnte voller Stolz, dass sie es geschafft hätte, seit nunmehr zwölf Jahren bei völliger psychischer Gesundheit in Attnang-Puchheim zu leben. Igor stieß einen anerkennenden Pfiff aus und erkundigte sich nach den gemeinsamen Söhnen, die er seit vielen Jahren nicht mehr gesehen und oft vermisst hatte, wie er zugab. Sie seien längst erwachsen, sagte Irene, beide sei­en als Missionare im tiefsten Kongo tätig, wo es auch im 21. Jahrhundert immer noch sehr gefährlich sei. Schon mehrmals hätte abwechselnd der eine den ande­ren erst in letzter Sekunde aus einem bereits brodelnden Kochtopf vor den Ein­heimischen retten können, die keine Christen werden wollten. Igor lachte erleich­tert. Irene stimmte in sein Gelächter ein. Plötzlich trafen sich ihre Blicke und blieben aneinander haften. Sie hatten beide das Gefühl, dass etwas Besonderes mit ihnen geschah. „Wollen wir es noch einmal miteinander versuchen?“ fragte Igor leise. Irene nickte und bestellte noch zwei Bier. Sie zerrissen ihre Schei­dungsurkunden. Igor schlug vor, dass sie ihre nunmehr wieder gemeinsame Zukunft mit einem alten Ritual bekräftigten, das aus dem kleinen Dorf hinter dem Uralgebirge stammte, wo Igor aufgewachsen war. Irene, die das Ritual kannte, stimmte zögerlich zu. Sie tauschten ihre Biergläser. Irene ließ einen win­zigen Speicheltropfen in Igors Bier fallen und sah dann zu, wie Igor fest seine Backen zusammenzog und wieder dehnte, um in seinem Mund möglichst viel Speichel zu sammeln, den er schließlich mit einer großen theatralischen Geste in Irenes Glas spie. Sie tauschten die Biergläser zurück. Igor trank sein Bier aus ohne abzusetzen. Irene zögerte, als sie den großen trüben Spuckebatzen in ihrem Glas schwimmen sah. „Ich kann das nicht“, hauchte sie und stellte das Glas ab. „Es tut mir leid.“ Beide schwiegen minutenlang. Irgendwann begannen sie die Fetzen der Verträge zu ordnen. Die hilfsbereite Kellnerin half ihnen schließlich mit einem Klebeband aus. Igor blieb allein in dem Lokal sitzen, auch dann, als Irenes Regionalzug nach Attnang-Puchheim den Bahnhof verließ. Der Intercity nach Zürich hatte bedauerlicherweise Verspätung. Als Igor schließlich auch auf dem Bahnsteig stand, warf er sein letztes Zwei-Euro-Stück in den Kinderüber­raschungsautomaten. Das Gerät streikte. Erst als Igor wütend mit der flachen Hand kräftig auf die Seitenwand schlug, spuckte der Automat seine Überra­schungen aus. Es waren zwei identische Schlüsselanhänger mit lachenden Missi­onaren, die in Kochtöpfen saßen.

Michael, 27. April 2019

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