Highway to hell

21 Jahre. Medizinstudium. 27. April 2019. Audi RS3. Am Samstagabend besuchte er mit seiner Freundin, die um zwei Jahre älter war, den angesagtesten Club in Wien. Er hatte nächsten Tag Geburtstag, was seine Stimmung durchaus weiter gehoben hat. Dass er als angehender Arzt bereits etwas vom Ansehen des Berufsstandes abstauben konnte, genoss er ebenfalls in nicht gerade großer Bescheidenheit. Die meisten Mädels fanden ihn fesch und seine Freundin nervte heute Abend schon wieder besonders. Was konnte er dafür, dass ihn eine blonde Kommilitonin, die heute zufällig hier war, immer wieder anlächelte. Nichts, aber auch wirklich gar nichts. Warum sollte er nicht auch zurück lächeln? Nur weil seine Freundin meinte, diese Bitch soll ihn gefälligst in Ruhe lassen. Bitch, von wegen Bitch, dachte er sich, sie glich doch eher einem blonden Engel, bereit Fantasien wahr werden zu lassen. Das Gespräch mit seiner Freundin ging völlig in die falsche Richtung. Als er dem blonden Engel auch noch zuzwinkerte, brachte er das Fass zum Überlaufen. Seine Freundin stieß ihn mit der Hand gegen die Schulter – er konnte sein viertes Bier gerade noch vor dem Verschütten retten – und verließ den Club. Zwei Minuten später kam die Kommilitonin bereits zu ihm und sagte: „Schön, dich hier zu treffen. Ich hoffe, du hast wegen mir jetzt keinen Stress bekommen.“. „Nein, die nervt eh schon länger. Immer eifersüchtig, du weißt schon.“. Die Kommilitonin lächelte auffordernd und fragte, ob sie denn dafür einen Grund hätte. „Überhaupt nicht!“, war seine Antwort und er zog sie langsam zu sich und küsste sie. Er bestellte im Laufe der Konversation noch drei weitere Bier und der blonde Engel sorgte dafür, dass er seine eifersüchtige Freundin für kurze Zeit gut vergessen konnte. Kurz nach Mitternacht begleitete er die Kommilitonin nach Hause, tauschte Zärtlichkeiten mit ihr aus und verließ die Wohnung um 02.45. Er startete seinen 367 PS – starken Audi und gab bereits am Stand kräftig Gas. Spotify wurde über bluetooth auf die Bose-Boxen des Audis übertragen: „All I ever wanted was to find you, Find a love I never knew, I can feel the pain inside me fading, While I’m fading into you.“ sorgte für die richtige Stimmung. An der Stadtgrenze von Wien drehte er das Gaspedal durch und die Tachonadel war schnell bei 170 km/h. Der Songteil „Been to Paris, been to Rome, but I never found my home, ‚til you came and took my hand.“ gefiel ihm am Besten und er ärgerte sich doch über seine Freundin mehr, als er sich anfangs eingestehen konnte. Die Linkskurve war plötzlich etwas enger als er dachte, die Fahrbahn vielleicht noch vom Regen leicht rutschig. Der Bolide schlug als erster in der Leitplanke ein und wurde zurück auf die Fahrbahn katapultiert. Hunderte Meter später stand das Wrack. Es rauchte und die letzten Zeile des Songs waren noch zu hören: „It don’t matter where we are, as long as you’re with me.“. Er hörte sie nicht mehr. Die letzten Gedanken galten seiner Freundin.

Muss ein Mann mit 170 km/h aus der Kurve fliegen, um zu begreifen was wirklich wichtig ist? Unabhängig, ob heute Medizinstudent oder gestern Landeshauptmann? Macht es einen Unterschied, ob der Crash mit „fading“ oder mit „Highway to hell“ stattfindet? Bier oder Whiskey? Wein scheint jedenfalls unpassend für den Abflug zu sein, hört man jedenfalls selten.

Langsam öffnete er drei Tage später die Augen. Der Himmel? Nein, kein blonder Engel, nur schwarze Haare. Er musste seine Augen öfter schließen und öffnen, um die schwarzhaarige Gestalt, die seine Hand hielt, genauer zu erkennen. Anfangs hielt er es für möglich, dass der Teufel ihn bereits in seiner Gewalt hatte. Nein, es war seine Freundin, die seine Hand sanft mit Tränen in den Augen drückte. Er konnte nicht einmal einen Vorwurf in ihren Augen erkennen. Die Ersthelfer und das Ärzteteam hatten ganze Arbeit geleistet. Er hatte auch noch Riesenglück und bleibende Schäden waren nicht zu befürchten. „Ich liebe dich“, waren dann seine ersten Worte. Als nächstes fragte er seine Freundin mit noch gebrochener Stimme: „Welches Datum haben wir heute?“. Sie konnte es sich nicht verkneifen, ihm zum dreißigsten Geburtstag nachträglich zu gratulieren und ihm am Handy das Datum mit dem Jahr 2027 zu zeigen. 01.05.2019. Fahrrad. 22 Jahre und bereits wissen, was wirklich zählt.

Harald, 27. April 2019

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