Wir leben in einer Welt, die über immer weniger Rituale verfügt. Selbst der Abschluss einer langen Ausbildung hat kaum mehr Wert, wenn lebenslanges Lernen als Normalfall gelten soll. Kein Anfang, kein Ende, Aneinanderreihung, leblos. In Firmen wird der Abschluss eines Projekts gefeiert, nach Arbeitsende und nur solange, um nächsten Tag wieder voll einsatzfähig zu sein. Selbst Jubilare mit jahrzehntelanger Zugehörigkeit werden am Wochenende geehrt, nur um keine Arbeitsleistung zu verlieren, Wertschätzung in langen Reden. Das Wochenende dient zur Regeneration, echte Erholung nur im Urlaub möglich. Gesundheitsprojekte, Nachhaltigkeit, aber trotzdem macht sich eine unglaubliche Langeweile in den Unternehmen breit. Leben wird verwaltet, kein Verzehr, nur mehr ödes Überleben. Die Angst vor dem Tod dabei immens, aber auch klar, wenn vorher kein Leben stattfindet. Schlechte Karten für Gesundheitsvorsorgler, für Verwalter, für Nie-Trinker, gute aber für die Abenteurer, für die Mutigen und für die Entdecker. Keine Angst vor dem Fremden, wenn eigene Kultur vorhanden ist. „Heute trinke ich noch ein viertes Bier“, murmelt Robert in seinem Bart. „Ich denke, du hast doch schon genug“, antwortete Gert, sein langjähriger Freund. „Weißt du, ob ich morgen noch lebe? Ob ich überhaupt nochmal die Gelegenheit habe, einen Rausch zu haben, Kopfweh am nächsten Tag? Weißt du das?“, antwortete er bedacht. „Warum sollst du denn nicht mehr leben?“, meinte Gert, ohne über die Frage wirklich nachzudenken. „Wäre aber blöd, wenn ich morgen tot wäre und heute aus Angst vor dem Tod von ein paar Gehirnzellen auf mein viertes Bier verzichte.“, führte er fort. Gert fuhr jedenfalls nach Hause, er wollte morgen fit sein. Bei Robert kam nach dem vierten Bier, noch ein fünftes und sechstes. Er hat dann auch noch Sophie, nein Sophia, oder doch Sonja, egal, angesprochen. Irgendwie war er dann heim getorkelt Ja, jetzt wo er aufwachte, hatte er die von Gert beim Verabschieden noch angekündigten Kopfschmerzen. Mit der Konsequenz konnte er leben, jede Entscheidung hat Konsequenzen, auch jene, die nur das Überleben sichern. Natürlich werden mit 62 Jahren die Kopfschmerzen nicht weniger, aber die paar Mal im Jahr wäre das Aushalten zu trainieren, um zu wissen, dass der Kopf noch dran ist. Er lies die Tablette ins Wasserglas gleiten, als sein Telefon klingelte. Er hob ab und war still. Er brachte kein Wort heraus, legte auf. Später würde er zurückrufen, sein Beileid ausdrücken. Gert war mit seinem Auto – völlig nüchtern – von der Strasse abgekommen und gegen eine Hausmauer gekracht, jede Hilfe kam zu spät. Keine Kopfschmerzen, immer gesund gelebt, wäre sicher Hundert geworden. Am Todestag von Gert geht Robert in jene Bar, in der er Gert das letzte Mal lebend gesehen hat und trinkt sechs Bier, wissend das es tatsächlich die letzten sein könnten. Ein siebtes Bier nimmt er dann mit und stellt es Gert auf sein Grab. „Rituale“, denkt er, „sind wichtig, zum Abschluss, aber auch zum Weitermachen, zum Leben aus der Fülle.“.
Harald, 16. August 2019