Schräge Vögel

An einem nasskalten Abend während der großen Pandemie war ich der allgemeinen Ausgangssperre zum Trotz allein draußen am Stadtrand unterwegs, dort, wo die Reihen der Häuser lichter wurden und allmählich ins Dickicht des Waldes übergingen. Ich zündete mir eine Zigarette an, klappte den Kragen meines Trenchcoats hoch und setzte meinen Weg fort. Mein Ziel war ein Baumhaus im Wald, in dem ich mich einmal im Monat mit drei anderen Virologen zum Pokern traf. Wir hatten es selbst gebaut, als Ausgleich zur unserer oft öden Tätigkeit in den Labors und an den Computern in unseren Büros. Für den letzten Abschnitt des Weges, der zwischen üppigen Holunderbüschen hindurch führte, schaltete ich meine Taschenlampe ein und erreichte wenig später die mächtige Buche, in deren Krone das Baumhaus thronte. Aus dem Umstand, dass ich oben kein Licht bemerkte, schloss ich, dass ich der erste war. Ich klettere die Strickleiter hinauf und öffnete die mit einem Vorhängeschloss gesicherte Holztür. Ich trat ein, schaltete die von einer Batterie gespeiste Beleuchtung ein und setzte mich in meinen Fauteuil, um auf die anderen zu warten. Ich schenkte mir einen Whiskey ein und rauchte eine weitere Zigarette. Gelegentlich warf ich einen Blick auf meine Rolex. Meine drei Kollegen, die insgesamt zu Unpünktlichkeit neigten, ließen sich an jenem Abend besonders viel Zeit. Ich trank einen weiteren Whiskey, rauchte die nächste Zigarette und richtete schon einmal einen frischen Satz Karten her, um die Zeit sinnvoll zu nützen. Eine halbe Stunde lang tat sich nichts. Dann hörte ich plötzich Geraschel an der Tür und wunderte mich darüber, weil ich nicht gehört hatte, dass jemand die Strickleiter erklommen hatte. Ich stand auf, um nachzusehen. Es war eine Taube, die auf der Plattform gelandet war. Als ich sie mit meiner Taschenlampe anleuchtete, stellte ich fest, dass sie ein kleines Behältnis an ihrem rechten Fuß trug. Es handelte sich um eine Brieftaube. Ich hob sie auf, trug sie ins Baumhaus und nahm ihr das Behältnis ab, was sie widerspruchslos mit sich geschehen ließ. Ich zog einen Zettel heraus, den ich entrollte. Es war eine Nachricht von meinen drei Spielpartnern. „Wir sind leider verhindert, Henry“, schrieben sie. „Wir mussten plötzlich zu einem Virologenkongress nach Montevideo, der auf einige Monate anberaumt ist. Tut uns schrecklich leid, wir hätten gern mit dir gepokert.“ Die Nachricht versetzte mir einen Stich ins Herz. Es gab, wie ich wusste, wegen der großen Pandemie keine Virologenkongresse mehr, weder in Montevideo, noch sonstwo auf der Welt. Die drei wollten einfach nicht mehr mit mir pokern, waren aber nicht Manns genug gewesen, es mir direkt ins Gesicht zu sagen. Ich schenkte mir noch einen Whiskey ein. Die Taube, die sich im Baumhaus sichtlich wohlfühlte, flatterte derweil auf den Tisch und sah sich interessiert die Pokerkarten an. Auf einmal vernahm ich draußen ein weiteres Geräusch, das sich anhörte, als ob etwas auf die Plattform geplumpst wäre. Ich sah nach und fand einen Uhu, der offensichtlich von oben aus dem Geäst auf seinen Kopf gefallen war. Weil er benommen wirkte, nahm ich ihn ins Innere des Baumhauses mit und setzte ihn in einen der verwaisten Fauteuls, die meinen treulosen Mitspielern gehörten. Nachdem er sich ein wenig erholt hatte, sah er interessiert der Taube zu, die damit begonnen hatte, einzelne Karten vom Stapel zu picken, in die Luft zu werfen und mit dem Schnabel wieder aufzufangen. Eigentlich hatte ich ja meine Zelte abbrechen und nach Hause gehen wollen, brachte es aber aus Verantwortungsgefühl gegenüber der Taube und vor allem gegenüber dem abgestürzten Uhu nicht übers Herz. Ich rauchte noch eine Zigarette und überlegte, wie ich weiter vorgehen sollte, als es draußen an der Baumhaustür klopfte. Ich hoffte, dass es zuguterletzt doch noch meine drei Spielpartner waren, die mir einen Streich spielten oder mich auf eine besonders harte Geduldsprobe stellen wollten. Wieder öffnete ich die Tür und entdeckte draußen bloß eine Schnepfe, die mich mit so bohrendem Blick ansah, dass ich instinktiv zur Seite trat und sie ins Baumhaus einließ. Sie trippelte mit sicheren Schritten herein und begrüßte zu meinem Erstaunen die Taube und den Uhu durch ein Kopfnicken. Mit ihren charakteristischen Lauten sprach sie die beiden anderen Vögel direkt an, die sich daraufhin direkt neben sie auf den Tisch setzten. Alle drei Vögel sahen mich durchdringend an und pickten dann mit ihren Schnäbeln Karten auf und legten sie verdeckt in vier Fünferstapeln auf den Tisch. In diesem Augenblick begriff ich, dass die Drei mich zum Pokern aufforderten. Als ich mich daraufhin in meinen Fauteul fallen ließ, taten es mir die Drei nach und setzten sich, jeder auf eines der verbleibenden Sitzmöbel. Die Schnepfe ordnete den Kartenstapel und begann unter Zuhilfenahme ihrer Flügel mit ihrem langen Schnabel die Karten zu mischen und an alle vier Spieler zu verteilen. Da wurde es mir auf einmal klar, dass ich im Begriff war, mit drei heimischen Vögeln zu pokern. Das konnte nicht sein, dachte ich mir, das war doch ganz und gar denkunmöglich. „Hört zu“, rief ich. „Irgendetwas ist hier faul. Da ich aber nicht weiß, was es ist, werde ich ein einziges Spiel mit euch machen. Wir spielen um alles oder nichts.“ Die drei Vögel nickten und rissen sich zur Bestätigung jeweils eine Feder aus, die sie als Einsatz in die Mitte des Tisches legten. Dann nahmen sie leicht schräge Sitzpositionen ein und sahen mich erwartungsvoll an. „Ich nehme die Herausforderung an“, rief ich und legte meine Rolex zu den Federn. Ich nahm mein Blatt auf und sah zu meiner Freude, dass ich drei Fünfen hatte. Die anderen begutachteten ebenfalls ihre Blätter. Die Taube tauschte bei der Schnepfe schließlich zwei Karten, der Uhu, der immer noch ein wenig mitgenommen wirkte, eine, die Schnepfe selbst behielt ihr Blatt. Ich tauschte zwei Karten und erhielt zu meinem Glück noch eine weitere Fünf. Nachdem die drei Vögel sich weitere Federn ausgerissen und auch den Tisch gelegt hatten, setzten sie sich wieder ein wenig schräger hin. Ich zog endlich meinen Trenchcoat aus und legte ihn als Einsatz auf den Tisch. Die Spannung stieg. Nach reiflicher Überlegung legten die Vögel weitere Federn dazu und setzten sich noch ein wenig schräger hin. Ich wusste nicht mehr so recht, was ich noch setzen sollte und legte am Ende mein Feuerzeug auf den Tisch. Die Vögel zogen nach und gestalteten ihre Sitzpositionen noch ein wenig schräger. Langsam wurde ich dünnhäutiger. „Sitzt nicht so schräg!“, rief ich und setzte meine angebrochene Packung Zigaretten. Die Vögel gingen mit, indem sie weitere Federn auf den Tisch warfen. Abermals veränderten sie ihre Sitzpositionen und saßen nun bereits so schräg, dass sie zu kippen drohten. „Ich halte das nicht aus!“, rief ich völlig entnervt. „Setzt euch gerade hin!“ Sie ignorieren mich und warfen weitere Federn ins Gefecht. Ich konterte mit meinen Socken und Schuhen. Sie waren nicht im Geringsten beeindruckt und gingen wieder mit und erhöhten und setzen sich so schräg hin, dass sie alle Gesetze der Stabilität verhöhnten. Ich setzte panisch meine Hose und meine Unterhose, was den Uhu so sehr aus dem Konzept brachte, dass er nun doch als erster das Handtuch warf. Taube und Schnepfe schoben weitere Federn nach, sodass mir nichts anderes übrig blieb, als mein letztes Hemd auf den Tisch zu werfen. Nun stieg endlich auch die Taube aus, die sich schon so viele Federn ausgerissen hatte, dass sie am Rücken deutlich sichtbare kahle Stellen aufwies. Die Schnepfe warf eine letzte Feder hin und wollte danach sehen, was ich hatte. Triumphierend legte ich meine vier Fünfen auf den Tisch. Grinsend ließ die Schnepfe ihr Blatt sinken. Ich sah, dass sie vier Neunen hatte. Sie hatte alles gewonnen. Mit ihrem Schnabel legte sie sich meine Rolex um ihren Hals und schlüpfte dann in meinen Trenchcoat, der ihr viel zu groß war, was sie aber geflissentlich ignorierte. Als sie sich schließlich eine meiner Zigaretten in ihren Schnabel steckte und sich vom Uhu Feuer geben ließ, hielt ich es nicht mehr länger aus, stieß die Tür auf, trat hinaus auf die Plattform und kletterte splitterfasernackt die Strickleiter hinunter und rannte schreiend durch den nächtlichen Wald, zurück in die Zivilisation. Die Polizisten, die mich aufgriffen, warfen mir, da es an mir nichts zu perlustrieren gab, eine Decke über und schoben mich auf die Rückbank des Streifenwagens. Das gäbe saftige Anzeigen, raunte mir der eine Beamte zu, während sie mich nach Hause fuhren, eine wegen Missachtung der Ausgangsssperre und eine weitere wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. So hätten sie es noch mit jedem schrägen Vogel gehalten, den sie aufgegriffen hätten. Ich wusste, dass er nicht die geringste Ahnung hatte von wirklich schrägen Vögeln, und schwieg.

Michael, 20. März 2020

2 Kommentare zu „Schräge Vögel

  1. Hallo Michael,

    die „Schrägen Vögel“ sind lustig zu lesen (vielleicht etwas zu lang?).
    Zwei Schreibfehler habe ich entdeckt:
    2. Zeile: „Standrand“
    4. Zeile „Icb“
    Beim Verteilen der Karten durch die Schnepfe schreibst Du „… und an alle vier Mitspieler zu verteilen.“ Ich glaube, dass das nicht ganz sauber formuliert ist.

    Freue mich auf Deine Antwort.

    Alles Liebe, bleib gesund!
    P.

    Gefällt 1 Person

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