Hero (just for one day)

Eines Nachts erschien Wahnfried, der gelegentlich zu psychischer Instabilität neigte, im Traum die österreichische Schispringerlegende Bubi Bradl und forder­te ihn auf, es ihm, Bradl, gleichzutun und von einer Schanze zu springen. Wenn er, Wahnfried, wahrhaft mutig sei, könne es gelingen, dass er gleich beim ersten Sprung seines Lebens hundert Meter schaffte. Wahnfried, der von Bradls Argu­mentation sofort überzeugt war, erwachte, stieg aus dem Bett, zog sich an und fuhr bei Nacht und Nebel mit seinem ausrangierten Postmoped in Richtung Bi­schofshofen. An einer Tankstelle deckte er sich mit Proviant ein. Der Verkäuferin sagte er, dass sie ihm etwas Herzhaftes einpacken solle. Kurz nach Mitternacht erreichte er das nach seiner Traumgestalt benannte Stadion am Fuß der Paul-Außerleitner-Schanze. Widerrechtlich verschaffte er sich Zugang zum Besucher­zentrum und entwendete ein Paar Sprungschier nebst passenden Schuhen. In der Dunkelheit der Nacht machte er sich auf den Weg zum Schanzenturm. Zielsicher stieg Wahnfried hinauf bis zum höchsten Punkt. Wer wenig Erfahrung hat im Springen, dachte er sich, braucht einen großen Anlauf. Etwas außer Atem legte er sich den hölzeren Sitzbalken, von dem aus er sich wahrhaft mutig in die Tiefe stürzen wollte, quer über die Spur, setzte sich hin, schlüpfte in die zuvor entwen­deten Schuhe und fixierte sie in den Bindungen der Sprungschier. Als er weit un­ten die wenigen nächtlichen Lichter der schlafenden Kleinstadt entdeckte, spürte er, dass er sich wahrhaft Großes vorgenommen hatte. Er beschloß, sich vor dem Sprung noch zu stärken und griff in die Papiertüte, die er an der Tankstelle erstanden hatte. Zu seiner Freude hatte die Verkäuferin ihm ein mit den kalten Fettrückständen eines Schweinebratens bestrichenes und mit Zwiebelringen gar­niertes Brot eingepackt, das genau das Richtige für Wahnfried war. Gutgelaunt dachte er an die Schispringerlegende, der er seinen aktuellen Aufenthaltsort ver­dankte, und begann, während er das Brot verzehrte, zu singen: Wo Hunger ist, tut feste Nahrung not, ich beiß ins Bubi-Bradlfettnbrot. Nachdem er wie ein König geschmaust und den letzten Bissen gekaut und geschluckt hatte, fühlte er sich bereit für seinen ersten Hundert-Meter-Sprung. Er stieß sich vom Balken ab und glitt lautlos in die Tiefe. Rasch gewann er an Fahrt. Weil er aber in der Dunkelheit nichts erkennen konnte und es ihm auch an der nötigen Erfahrung mangelte, sprang Wahnfried am Schanzentisch nicht ab, sondern fuhr einfach über ihn hinaus und begann, als er es realisierte, in der Luft wild zu zappeln und um sich zu schlagen. Er geriet in Rückenlage und touchierte einen Augenblick später bereits den Vorbau der Schanze, wo seine Schienden sich ins Erdreich bohrten. Weil die fest eingestellten Bindungen hielten, versuchte Wahnfried, der ein paar Handbreit über dem Boden in der Luft hing, sich an den Skiern festzuhalten und zog sich dabei an den schar­fen Kanten Schnittwunden an Armen und Händen zu, ehe er das Bewusstsein verlor. Als er wieder zu sich kam, tagte es bereits. Er lag auf einer Trage und sah vor sich einen Sanitäter, der kopfschüttelnd die Anzeige eines Fieberthermome­ters ablas und zu seinem Kollegen sagte, dass er, Wahnfried, der Bedeutung des Wortes „kaltblütig“ eine ganz neue Dimension verliehen hätte. Wahnfried machte sich bemerkbar und fragte die beiden, was mit ihm geschehen sei. Als sie ihm sagten, dass er, Wahnfried, offenbar mitten in der Nacht von der Schanze ge­sprungen sei, fiel es ihm wieder ein. Die Sanitäter fragten ihn, was um alles in der Welt er sich dabei gedacht hätte. Wahnfried, der inzwischen seine von blutigen Schnitten übersäten Hände und Arme entdeckt hatte, zuckte die Achseln und er­widerte: Dem Blutigen gehört die Welt. Die Sanitäter trugen ihn hinunter ins Sta­dion, wo ihn bereits ein Krankenwagen erwartete. Wochen später, als Wahnfried körperlich so weit wiederhergestellt war, dass in der Landeshauptstadt Salzburg in der Christian-Doppler-Klapsmühle auch seine psychische Labilität behandelt werden konnte, fragte er den zuständigen Irrenarzt, wie weit er denn gesprungen sei, auf der Paul-Außerleitner-Schanze. Sieben Meter, sagte der Arzt nach einem Blick in Wahnfrieds Krankenakte. Wahnfried begann darüber nachzudenken, wie er Bubi Bradl die fehlenden 93 Meter erklären sollte, sobald der ihm wieder im Traum erschien. Er hoffte, dass Bradl sich noch ein wenig Zeit ließ.

Michael, 15. Mai 2020

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