Halbwegs normal

Ich bin mit meinem 62 Jahren noch halbwegs fit. Eigentlich sogar topfit, aber wer das in diesem Alter behauptet, hat meist schon relativ viele Probleme und schafft zwei Stockwerke zu Fuß schon eher selten. Halbwegs reichte mir in meinem bisherigen Leben immer. Meine erste Ehe war halbwegs glücklich, im Vergleich auch wieder glücklicher als viele andere ganz glückliche Ehen. Ich habe halbwegs viel Freunde, machte eine halbwegs gute Karriere und verbringe meist halbwegs schöne Reisen, in denen ich als architektonisch interessierter Laie die kulturellen Unterschiede der Innenausstattung von Bordellen vergleiche (vielleicht war das auch der Grund für das Scheitern der Ehe) und so das aus meiner Sicht Nützliche mit dem Angenehmen verbinde. Die Fotos sind dann halbwegs gut, aber kein Vergleich zu den Traumurlauben jener, die ganz schöne Reisen machen. Dass ich nur halbwegs gut aussehe, wird niemanden überraschen, dafür lege ich auch keinen Wert auf die Außenwirkung wie die ganz Schönen. Mein halbwegs neuer Porsche macht mächtig viel Spaß und Lärm, das Elektroauto des Nachbarn ist ganz neu und beschleunigt noch schneller. Eigentlich wäre alles halbwegs perfekt, wäre da nicht die letzte Urlaubsreise gewesen. 

Ich frönte ungezwungen meinem Hobby, entdeckte gerade in Amsterdam einen jungen Künstler, der auf den Gängen eines Laufhauses Frauengesichter, die auf eine seltsame Weise etwas verbargen, ausstellte. Er hatte sich regional schon einen Namen gemacht, der Betreiber des Laufhauses war in der Stadt ein bekannter Mäzen. Ein Bild faszinierte mich besonders, es waren diese Augen, halbwegs blau. „Je le suis.“, hauchte eine Stimme hinter mir und berührte mit einer Hand meine Schulter. Ich drehte mich um und sah Lola mit ihren blonden, halbwegs langen Haaren. Ich verliebte mich binnen weniger Minuten in die Französin und buchte drei Stunden. Lola verzichtete auf jegliches Honorar und wir verließen bereits gemeinsam nach einer Woche Amsterdam. Natürlich hatten wir auch halbwegs legales Rauchwerk mitgenommen. Lola meinte nach kurzer Zeit, dass mein halbwegs gutes Französisch „est de mieux en mieux“. Liebe ist einfach die beste Sprachtrainerin und ich war halbwegs glücklich, Lola genauso. Ich war aber auch halbwegs älter und und mit Lola und ihren 27 Jahren konnte ich manchmal nicht einmal halbwegs mithalten. 

Um die merkwürdigen Blicke der Nachbarn nicht weiter zu provozieren, küsse ich Lola bei den langen Spaziergängen erst dann, wenn wir einige Hundert Meter von unserem halbwegs großen Haus entfernt sind. Lola küsst halbwegs gut und das genieße ich sehr, da Perfektion aus meiner Erfahrung hier völlig fehl am Platze ist. Bei einigen vermeintlichen befreundeten Ehepaaren aus der Nachbarschaft werden wir nicht mehr eingeladen, Lola wäre zu extrovertiert, ihr Kleidungsstil unangebracht und freizügig, außerdem wollen diese ganz Normalen mit dieser beruflichen Vergangenheit von Lola nichts zu tun haben. Wir machen aus Lolas Vergangenheit kein Geheimnis, auch wenn sie ihren Beruf schon gleich nach dem Kennenlernen aufgegeben hat und mittlerweile halbwegs mehr als Künstlermodell verdiente. 

Nach einiger Zeit und vielen Irritationen war ich auch schon fast der Meinung, dass halbwegs normal heutzutage nicht mehr reichte. Ich kaufte Lola andere Kleidung, der Jahreszeit angepasst hochgeschlossene Pullover und warme Socken. Wir zogen uns zurück und versuchten, möglichst nicht aufzufallen. Doch es schlug uns immer mehr Feindseligkeit der ganz Glücklichen entgegen, uns, den halbwegs Glücklichen. Eines Abends fuhren wir von einem Bildhauer, für den Lola regelmäßig arbeitete, nach Hause. Es war abends noch viel Verkehr, selbst noch hundert Meter von unserem Wohnort waren viele Autos zu sehen. Plötzlich sah ich am Straßenrand einen Mann, so um die fünfzig, liegen. Das Gesicht war deutlich zu erkennen und er brauchte unzweifelhaft Hilfe. Wir blieben sofort stehen und halfen dem sehr schwer betrunkenen Mann auf die Beine, auf denen er sich aber selbständig nicht halten konnte. Da er laut seiner Aussage nur unweit von uns wohnte, ließen wir das Auto stehen und brachten ihn zu Fuß nach Hause. Eine Woche später läutete dieser Mann bei unserer Tür, berichtete von der Scheidung und hatte durch diese Nacht den Glauben an die Menschheit wieder erlangt. Laut seinem Arzt hätte er die Nacht nicht überlebt und das Gefühl der vorbeifahrenden Autos würde er sein Leben lang nicht mehr vergessen. Die ganz Normalen waren bei ihm vorbeigefahren, Anfang Dezember, bei einem Mann, der nicht mehr aufstehen konnte, der erfroren wäre. 

Lola fragt mich, was ich da machen würde, als ich ihrem Pullover einen tiefen Ausschnitt verpasse, ihre Winterschuhe mit einem roten Spray bearbeite und ihr meinen schwarzen Ledermantel umhänge. Mit großer Genugtuung küsse ich sie vor der Haustüre, Lolas deutlich zu erkennenden Brüste wirken in der Kälte noch praller, gehe auf die Straße, grüße das Nachbarehepaar mit den offen stehenden Mündern und weiß, dass für Lola und mich halbwegs normal auf alle Fälle reichen wird.

Harald, 04. Dezember 2020.

2 Kommentare zu „Halbwegs normal

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