„Meine Freunde“, sagte ich zu Dr. Eisvogel, „haben immerzu hohe Erwartungen an mich, die ich nicht erfüllen kann.“
„Nicht erfüllen kann“, wiederholte Dr. Eisvogel, kaute auf seinem Bleistift herum und stieß dann plötzlich mit seinem Kopf ruckartig nach vorne, „oder nicht erfüllen will?“
„Gute Frage“, sagte ich nach einer kurzen Pause. „Wahrscheinlich beides. Das nicht Können befeuert das nicht Wollen und umgekehrt.“
„Aha, aha“, sagte der Doktor und kitzelte etwas in eine Tabellenspalte. „Ein Henne-Ei-Problem also, wie es sich für mich darstellt.“
„Gewissermaßen“, pflichtete ich ihm bei. „Sowohl das Geflügeltier als auch sein noch nicht bebrüteter Nachwuchs sind dabei aber mit den bekannten Gordischen Seilen so umwickelt, dass diese in einem raffinierten Knoten münden, der einer Auflösung bedarf.“
„Nach meinem Dafürhalten“ sagte Eisvogel und biss ein letztes Mal auf seinen Stift, „soll man Geflügel und Eier nicht auf einem Streitwagen transportieren. Das führt bloß zu vermeidbarem Tier- und Menschenleid.“
„Wie soll ich das verstehen, Doktor?“, fragte ich. „Sie klingen, mit Verlaub, ein wenig sphinxisch heute, wie mir scheint. Oder liegt es doch an meiner Begriffsstutzigkeit?“
„Nein, nein“, wiegelte Eisvogel ab. „Wer zahlt, schafft an! Ich werde mich erklären.“
„Ich bitte darum“, sagte ich. „Ich bin ganz Ohr!“
„Also“, begann der Doktor. „Die Erwartung, die Ihre Freunde an Sie hegen, resultieren doch wohl aus Ihren gemeinsamen Umtrieben. Bitten Sie ihre Freunde doch einfach, dass Sie bei nächsten Mal zusammen etwas ganz anderes unternehmen als gewöhnlich. Sie betreten dann alle Neuland und Ihre Freunde müssen gar nichts mehr von Ihnen erwarten.“
„Das ist ja die Krux, Doktor“ seufzte ich. „Wenn wir in einer Bildersprache bleiben, dann wollen sich meine Freunde mit mir unbedingt zum Reiten treffen, aber nicht eben zum Forellenräuchern. Und ich reite dann, bildlich gesprochen, für mein Leben gern mein Schaukelpferd. Meine Freunde aber sagen immer: Uns gefällt nur der gestreckte Galopp! Nimm doch den Berberhengst, drängen sie mich, oder die Hannoveranerstute, die galoppieren doch viel besser! Ich aber will bei meinem Schaukelpferd bleiben und es nach und nach in allen Facetten und Gangarten durchreiten, ohne etwas zu überstürzen. Sie verstehen, was ich meine, Doktor?“
„Natürlich“, sagte Eisvogel. „Ich bin Therapeut. Meine Aufgabe ist es, alles zu verstehen. Sagen Sie: Wie halten es Ihre Freunde mit ihren eigenen Ritten?“
„Der eine“, erwiderte ich, „steigt eben jedesmal auf den selben Berberhengst, während der andere genauso beharrlich auf die immer gleiche Hannoveranerstute klettert. Und dann reiten sie los.“
„Wie ich es mir dachte“, sagte mein Therapeut. „Was passiert dann?“
„Jedesmal dasselbe“, erklärte ich. „Sie stürzen von ihren hohen Rössern und bleiben benommen im Gras liegen.“
„Genau so, wie es es vermutet habe!“, rief Eisvogel. „Heute bin ich wirklich gut!“
„Und?“, hakte ich nach. „Haben Sie einen Rat für mich?“
„Treffen Sie sich abends“, sagte der Doktor. „Direkt am Pferdestall. Nehmen Sie Tücher mit und verbinden Sie sich gegenseitig die Augen. Dann schleichen sie sich in den Stall. Jeder schnappt sich das nächstbeste Pferd, sitzt auf und reitet davon, so gut er es eben vermag.“
„Aber, aber“, werfe ich ein. „Das wäre ja glatter Diebstahl!“
„Exakt“, strahlte Eisvogel. „Sie haben mich richtig verstanden. Sie müssen zusammen Pferde stehlen!“
Michael, 29. Jänner 2021.