Ullrich war seit Jahrzehnten einer der angesehensten und erfolgreichsten Paartherapeuten im deutschsprachigen Raum. Johann, 56, rief ihn an, weil er vermutete, dass seine Frau Bettina, 47, ihr Studium der Kristallographie dazu nutzen würde, um mit fremden Männern ins Bett zu gehen. Auf die Rückfrage von Ullrich, wie er denn auf diese Idee kommen würde, antwortete Johann, dass die gezüchteten Kristalle, die sie zu Hause aufgestellt hatte, eher jenen eines Experimentierkoffer für zehnjährige Kinder entsprechen würden, als akademisches Niveau aufzuweisen. Ullrich, der ebenfalls gerne Kristalle züchtete, ließ sich über einen Nachrichtendienst sofort einige Bilder von Johann senden. Ullrich erkannte, dass ein Lösungsverfahren angewandt wurde, wie es tatsächlich auch in Experimentierkoffern angeboten wurde. Er tippte aber zuerst darauf, dass hydrothermale Bedingungen notwendig wären, um einen Kristall dieser Art zu züchten. Das würde darauf hindeuten, dass er keineswegs aus einer Zucht wie im Handel oft angeboten, stammen könnte. Johann sollte ihm nun noch ein paar detailliertere Aufnahmen aus verschiedenen Perspektiven senden. Ullrich stammelte nach Erhalt wieder etwas vor sich hin, murmelte, konzentrierte sich, schlug nach. Nach sieben Minuten war Ullrich sich sicher, dass hier eine Schmelzlösung eingesetzt wurde. Johann fragte ungeduldig, was denn das nun wieder zu bedeuten hätte. Schmelzlösungen, so führte Ullrich etwas langatmig aus, wären jene Verfahren, die nur für Spezialzwecke und in der Forschung verwendet würden. Eine Anwendung im privaten Bereich wäre gänzlich ausgeschlossen. Somit stünde zweifelsfrei fest, dass seine Frau ernsthaft studierte und Johann sich diesbezüglich nicht die geringste Sorge machen müsse. Am Ende des ungefähr zwanzigminütigem Telefonat erwähnte Ullrich noch, dass er Johann die Rechnung in Höhe von 2.700 Euro in den nächsten Tagen zukommen lassen würde. Johann schluckte etwas, aber das war es ihm wert, ein Gefühl der Sicherheit, seine Eifersucht brach wieder einmal völlig grundlos aus. Er empfahl Ullrich, aus Johanns Sicht tatsächlich eine Koryphäe seines Faches, weiter und verstand oft gar nicht, warum einige meinten, dass Paartherapie nichts für sie wäre. Erst als einige Wochen später ihm Bettina mitteilte, dass sie ihn verlassen, weil sie mit ihrem Liebhaber Raphael, 27, der ebenfalls Kristallographie studierte, ein Start-up gründen würde und einen revolutionären Experimentierkoffer der Kristallzucht auf den Markt bringen wollte, verstand Johann, dass seine Freunde recht hatten und Paartherapie tatsächlich nichts bringen würde.
Harald, 29. Jänner 2021.
Was für ein geniales Hobby – Kristalle züchten. Ich staune immer wieder, was es gibt…
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Das Studium dazu kenne ich selbst nicht, hört sich aber spannend an. Meiner Lebensgefährtin empfehle ich es trotzdem nicht…
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