Marie strich sie über ihr blutverschmiertes Gesicht und lächelte. Die Welt war aus den Fugen geraten. Die Linken unterstützten den Staat und die Rechten traten gegen eine ultra-konservative Regierung auf. Marie, der Antifa angehörig, machte das nichts aus, die Welt änderte sich doch laufend, Hauptsache Frau steht für was. Der Weltfrauentag lies sie kalt, nur etwas für die Medien. Sie tat, was gut für sie war, was sie für richtig befand, heute war sie hier, auf dieser Großdemo. Die Rechten forderten, die Einschränkungen der Grundrechte aufzuheben, weniger Staat. Als Linke konnte sie die Straße nicht den Rechten überlassen, egal was sie letztendlich wollten. Sie schaute auf den Himmel während sie noch auf der Straße lag und Wolken zogen vorbei. Es hatte hier am Boden etwas Friedliches, die Auseinandersetzung war den Stehenden vorbehalten. Die Antifa war an die Rechten geraten und sie hatten sich zuerst verbal attackiert. Übliches Spiel, die einen geistig behindert, die anderen im gerechten Kampf oder auch umgekehrt, war das dann der gelinkte Kampf? Marie stieß einen Rechten, fasste ihn an der Jacke, rempelte. Dann kam die Polizei, zerrte sie weg, warf sie zu Boden, Platzwunde an der Stirn, ließ sie liegen. Marie dachte kurz, dass die Welt ungerecht wäre, zum ersten Mal war sie auf der Seite des Staates, der Staat, der sie jetzt mittels seiner Exekutive attackiert hatte. Hausbesetzungen, Sachbeschädigungen, Beleidigungen von Polizisten, nie war sie verletzt worden. Sie hörte zuerst nur die Stimme, bewegte langsam ihren Kopf, sah ihn, ihn, den Rechten, den sie an der Jacke packte. Seine Hand hatte etwas Vertrauenswürdiges, etwas Wohlwollendes, kein rechts erkennbar. Marie ergriff sie, stand auf, sah seine blauen Augen. „Gib mir ein bißchen Sicherheit“, begann sie leise einen Song von Silbermond zu singen. „In einer Welt in der nichts sicher scheint“, führte er fort. Sie ließ seine Hand noch nicht los und forderte ihn auf: „Und gib mir in dieser schnellen Zeit irgendwas was das bleibt“. Sie gingen über den Platz, er versuchte mit einem Taschentuch ihre blutende Wunde zu stillen, sie küsste ihn. Es war ihre Wahl, female choice. In ihrer Wohnung angekommen, wusch sie sich ihr Gesicht, er versorgte sie mit einem Pflaster. Sie benötigte keine Worte, es war klar, was sie wollte, er hatte aber auch nicht wirklich etwas dagegen. Die nächsten zwei Wochen verbrachten sie die Nächte gemeinsam, die Tage weniger. Am Tag gab es links und rechts, oben und unten, falsch oder richtig, Erfolg und Niederlage, male choice. Ihre Literaturversuche wurden immer besser, seine Einwendungen brachten Vielfalt. Sie hörte ihm zu, falsifizierte, argumentierte, schrie, sie liebte ihn. Bei der nächsten Demo gingen sie Hand in Hand, wechselten oft die Seiten, hörten zu, verbanden, was vielleicht manchmal doch zusammengehört. Als sie den Polizisten erkannte, der sie brutal zu Boden warf, ging sie auf ihn zu und strich ihm zärtlich über sein Gesicht. Dieser warf daraufhin spontan seinen Helm in die Wiese und fing bei der heimlichen, echten österreichischen Nationalhymne „Es lebe der Zentralfriedhof“ mit der Textstelle „Die Pforrer tanz’n mit die Hur’n und Juden mit Araber“ zu tanzen an. Nach kurzer Zeit machten viele mit und im Innenministerium beschlich den Minister ein leiser Verdacht, dass sein Umgang mit anderen Meinungen ausbaufähig sein könnte. Der Kanzler und der Gesundheitsminister zogen ebenfalls aus den Lifestream-Videos der tanzenden Menge eine Erkenntnis, da sie nun die angrenzenden Grundstücke am Zentralfriedhof zur Erweiterung desselbigen nutzen wollten, nachdem sie es im Sommer verabsäumt hatten, die medizinische Grundversorgung entsprechend auszubauen, dafür aber die Grundrechte aushöhlten und die Eigenverantwortung von Menschen zu verhindern versuchten. Als der Bundespräsident sich doch noch ein Monat später bei der Einweihung der Erweiterungszone des Zentralfriedhofs zu Wort meldete, begannen Marie und ihr Freund zu singen: „Am Zentralfriedhof is‘ Stimmung, wia’s sei Lebtoch no net wor.“ Die Masse stimmte ein…
Harald, 12. März 2021.