Der Schatten

Ein merkwürdiger Schatten bewegt sich an der Hausmauer. Hans und Frieda, seit zwanzig Jahren verheiratet, freuen sich, wie alles schön blüht im Garten und die Vögel singen. Das Frühstück auf der Terrasse wäre perfekt, doch jetzt auch da Schatten und Kühle. Griesgrämig blättert Hans im Kleinformat, das triefend und geifernd sich erhebt, während Frieda Kaffee nachschenkt. Beim Nachbarn wird mittags im eingefriedeten Garten gegrillt und gelacht. Die Menschen haben sich wieder, finden Gemeinsamkeiten und alles andere ist nun wirklich egal. Dem Schatten nicht, er bewegt sich weiter, verdunkelt im Nachbargarten die Sonne, aber kein Stimmungseinbruch. Abends beim Spaziergang entdecke ich Hans und Frieda beim Vorbeigehen tot auf der Terrasse, auch die Teilnehmer der Grillfeier beim Nachbarn, alle tot. Ich möchte den Notruf wählen, aber ich sehe, die Einwohner des ganzen Ortes sind tot. Beim Land telefonisch keiner mehr erreichbar, alle tot. Bleibt nur mehr die Bundeshauptstadt, Cobra, Rettung, Feuerwehr, egal, Hilfe! Totenstille im ganzen Land und der Schatten ist in mir, ich kann ihn spüren, werde müde und schlafe ein. Am nächsten Morgen geht die Sonne auf, andersfarbige Strahlen erwecken die Menschen wieder zum Leben, in Abhängigkeit. „Zum Gebet ihr Wiedererweckten“, ruft eine Stimme. Ich kann es nicht glauben, es funktioniert tatsächlich. Massen bewegen sich, Massen fürchten sich, aber nicht weil 30 Millionen Menschen pro Jahr an Hunger sterben, nein, das Fleisch am Griller brutzelt doch immer noch so schön. Erstaunt öffne ich meinen Mund, der Schatten kommt, nicht nur aus meinem Mund, nein aus vieler Münder, er ist stark, er ist die echte Sonne, er fegt wieder durch das Land, die Mächtigen, korrupt, unfähig, skrupellos, kokainabhängig, selbstsüchtig, niederträchtig, manipulierend, hinterfotzig, sie zittern. Als eine Stecknadel mit türkisem Kopf durch ein grünes Blatt gestoßen wird, bin ich mir sicher, ihr entkommt uns diesmal nicht mehr. Die Sonne scheint plötzlich wie zuvor, aus den Boxen dröhnt das wilde Leben, ehrlich, mit Fehlern und Makeln, frei, unbändig, glaubwürdig, liebend, nur Hans und Frieda sitzen auf der Terrasse im Schatten.

Harald, 14.5.2021

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