Seit Jahren schon versuche ich, nachts in meinen Träumen nach Darmstadt zu gelangen. Ich setze dabei ausschließlich auf öffentliche Verkehrsmittel, genauer gesagt trachte ich danach, mein Ziel mit Nahverkehrszügen zu erreichen. Ich scheitere dabei jedes Mal, ehe ich meine Reise überhaupt antreten kann. Die Gründe dafür sind vielfältig. Oft irre ich durch monströse Abfahrtshallen, die zu den Bahnhöfen in Frankfurt, Mainz oder Wiesbaden zu gehören scheinen und versuche vergeblich, einen Fahrkartenschalter zu finden. Automaten gibt es in meinen Träumen nicht. Wenn ich mich dann entscheide, die Fahrt ohne Ticket anzutreten, gibt es keinen Zug. Es gibt nicht einmal Fahrpläne, weder gedruckt noch als Überkopfanzeiger. All meine Bitten ans Bahnpersonal, mir doch die Abfahrtszeiten der nächsten Verbindungen nach Darmstadt zu nennen, werden abschlägig beschieden. Man könne es nicht sagen, wann der nächste Zug in diese Richtung fahre, heißt es immer lapidar. Vielleicht sei der Verkehr auf der Strecke auch ganz eingestellt worden. Ich weiß, dass ich dann jedesmal meine jeweiligen Gesprächspartner stehen lasse, kopflos durch die verschiedenen Ebenen der Bahnhöfe hetze, geflieste Rundbögen durchquere und in Tiefbahnhöfe hinuntersteige und danach wieder hinauf in die Hallen, immer auf der verzweifelten Suche nach Zügen in Richtung Darmstadt, die ich nie finde. Irgendwann kommt dann in all der Ausweglosigkeit der Lauf der Zeit zum Erliegen und erlöst mich auf diese Weise aus meinen kopflosen Irrläufen. In der vergangenen Nacht war insofern zum ersten Mal alles anders, als es bei meiner Ankunft auf dem Bahnhof in Mainz sofort einen Zug nach Darmstadt gab. Ich wurde gleich gar nicht gefragt, ob ich mitfahren wolle, sondern aufgefordert, mich bis auf die Unterwäsche auszuziehen und sofort einzusteigen. Ich tat wie geheißen und zwängte mich, nur noch mit meiner Doppelrippgarnitur bekleidet, in einen merkwürdigen ovalen weißen Waggon, der schon abfahrbereit auf dem Gleis stand und der sehr kurz war, aber sehr wohl die Breite eines normalen Eisenbahnwagens aufwies. Ich war der erste, der einstieg und schaffte es nur mit Mühe, dass ich mich selbst in jede Position rechts außen einschlichtete, die mir zugedacht war. Nur in einer gekrümmten, unnatürlichen Körperhaltung war es mir überhaupt möglich. Nach mir stiegen weitere fünf Männer ein, die genau wie ich weiße Doppelrippgarnituren trugen. Ich solle mich nicht so anstellen, sagte mein Nebenmann links von mir. Er wisse, dass das Reisen so nicht bequem sei; es ginge aber doch bloß bis nach Darmstadt und man gewöhne sich daran. Das Wichtigste sei, dass ich versuchte, entspannt zu atmen. Ich nickte und versuchte, seinen Rat zu beherzigen. Zu meinem großen Erstaunen fuhren wir tatsächlich los. Doch wie sehr ich mich während der Fahrt auf freier Strecke auch bemühte, Ruhe zu bewahren und gleichmäßig zu atmen, schob ich immer wieder mein gequältes Rückgrat und meinen verspannten Nacken hin und her und touchierte dabei meinen Nachbarn, der mich vorwurfsvoll tadelte. Wir erreichten Darmstadt auch diesmal nicht. Der Lauf der Zeit kam wie immer zum Erliegen und sorgte gnädig für meine Erlösung. Diesmal wollte ich es nicht länger hinnehmen, dass ich nie in der Stadt meiner Wünsche ankam. Wild entschlossen versuchte ich mir Hilfe zu organisieren, indem ich beim Sorgentelefon des Ministeriums für Innermenschliches anrief. Eine Frau, die sich mir als Mathilde vorstellte, nahm sich meines Anliegens an. Das Timbre in ihrer Stimme vermittelte mir von Anfang an ein tief empfundenes Mitgefühl. Ich schilderte Mathilde ausführlich meine Leidensgeschichte und meine vergeblichen Versuche, nach Darmstadt zu gelangen. Am Ende fragte ich sie, ob sie mir helfen könne. Das könne sie selbstverständlich, eröffnete mir Mathilde. Dazu müsse ich aber zu ihr in ihre Wohnung ziehen. Menschliche Nähe sei in meinem Fall das Allerwichtigste. Ich ließ mir ihre Adresse geben, packte meinen Rucksack und machte mich zu Fuß auf den Weg zu Mathildes Wohnung, die zum Glück gar nicht weit von meiner entfernt lag. Mathilde empfing mich an der Tür und nahm mir meinen Rucksack ab, den sie in die Diele stellte. Wir hätten keine Zeit zu verlieren, erklärte sie dann. Wir würden sofort mit der Unterweisung beginnen, nachdem sie mich mit ein paar Regeln vertraut gemacht hätte, die ich beim Zusammenleben mit ihr beachten müsse. Sie führte mich herum und zeigte mir die Räumlichkeiten. Ich dürfe mich überall frei bewegen, sagte Mathilde und mich aus ihrem Kühlschrank und ihrer Vorratskammer bedienen, wenn ich hungrig oder durstig sei. Auch ihre Waschmaschine und ihre sanitären Anlagen stünden mir jederzeit zur Verfügung. Wie lange ich bei ihr bleiben müsse, hinge aber letztlich davon ab, wie rasch ich meine Lektionen lernte. Im übrigen würde ich nicht viel freie Zeit haben, weil es darum ginge, dass ich möglichst viel über Darmstadt lernte und am Ende alles wusste und mir meinen Aufenthalt dort verdiente. Sie selbst werde meine Lehrerin sein. Anschließend führte sie mich ins Wohnzimmer, wo sie mir einen Platz auf ihrer Couch zuwies. Sie setzte sich mit gegenüber und hielt mir aus dem Gedächtnis einen ausführlichen Vortrag über die geografischen, kulturellen, städtebaulichen und demoskopisch ermittelten Besonderheiten von Darmstadt. Nachdem sie geendet hatte, fing sie an mir Fragen zu stellen, um sich vergewissern, wie viel von dem, was sie mir erzählt hatte, in meinem Gedächtnis haften geblieben war. Mit großer Geduld wiederholte Mathilde alles, was ich wieder verschwitzt hatte, bereitete es mit noch einmal verständlich auf und prüfte mich wieder und wieder, bis bei mir alles saß. Als sie endlich zufrieden lächelte, blickte ich zum ersten Mal aus dem Fenster und stellte fest, dass es draußen bereits dunkel war und dass die Nacht hereingebrochen war. Ich hatte seit meiner Ankunft in Mathildes Wohnung noch nichts gegessen oder getrunken. Ich bat meine Gastgeberin um einen Tee und um ein paar Kekse. Ich solle mich doch bitte selbst bedienen, forderte sie mich auf. Es sei alles wie besprochen in der Küche für mich bereit. Ich erhob mich, ging in die Küche, brühte Tee auf, holte zwei Tassen aus dem Geschirrschrank, suchte Kekse und kehrte zurück zu Mathilde ins Wohnzimmer, die erfreut schien, dass ich auch an sie gedacht hatte. Während wir Tee tranken und Kekse aßen, stellte sie mir noch einmal wahllos Fragen über Darmstadt, von denen ich auch die kniffligsten mühelos beantworten könnte. Am Ende war ich so müde, dass ich meine Augen kaum noch offen halten konnte. Da fiel mir ein, dass ich Mathilde noch gar nicht gefragt hatte, wo mein Bett sei. Ich würde selbstverständlich bei ihr in ihrem Bett nächtigen, sagte sie. Ich dürfe sie in der Nacht auch gern überall berühren, wenn mir danach sei. Das, was Frauen und Männer miteinander für gewöhnlich im Bett miteinander anstellten, könne ich aber mit ihr nicht machen. Dafür sei sie nicht gebaut. Ich fragte nicht nach, wie sie das meinte, sondern holte wortlos meinen Rucksack aus dem Flur und zog mich kurz ins Bad zurück, um mich bettfertig zu machen. Weil ich meinen Pyjama vergessen hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als in eine frische Doppelrippgarnitur zu schlüpfen. Mathilde wies mir die linke Seite ihres Bettes zu und sagte, dass sie gleich nachkommen würde. Sie verschwand und tauchte wenige Minuten später wie angekündigt wieder auf. Zu meinem Erstaunen trug sie die gleiche Doppelrippgarnitur wie ich. Sie legte sich auf ihre Seite des Bettes, wünschte mir eine gute Nacht, drehte mir den Rücken zu und schlief wenige Augenblicke später ein. Trotz meiner bleiernen Müdigkeit konnte ich es ihr nicht nachtun, sondern blieb wach. Als mir einfiel, dass Mathilde es mir ausdrücklich erlaubt hatte, dass ich sie berührte, ging ich ihr behutsam an die Wäsche und erkundete mit meinem Händen ihren Rücken und ihr Gesäß. Zu meiner maßlosen Verwunderung spürte ich an Mathildes Körper keine warme, weiche Haut, sondern kaltes, hartes Glas. Ungläubig fuhr ich mit meinen Fingerkuppen an Mathildes gläserner Wirbelsäule entlang und bemerkte bald, dass jene Stellen, die ich gerade berührte, sich angenehm erwärmten. Ich rückte ganz nah an Mathilde heran, bis ihr Glaskörper mich überall so wohlig wärmte, dass ich endlich einschlief. Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich einer riesigen gewölbten Halle, an deren Decke ich Jugendstilelemente ausmachte, mit deren Hilfe ich augenblicklich bestimmen konnte, wo ich war. Zu meinem großen Entzücken stand ich im Empfangsgebäude des Darmstädter Hauptbahnhofs. Obwohl ich immer noch nichts anderes trug als meine Doppelrippgarnitur, nahm von den vielen Passanten niemand Anstoß an meiner spärlichen Adjustierung. Ungläubig vor Glück machte ich mit zitternden Beinen auf den Weg hinaus ins Freie. Auf dem Vorplatz winkte ich einem Taxi, das bedächtig heranrollte. Die Lenkerin hielt neben mir, ließ die Seitenscheibe herunter und fragte mich, wo die Fahrt hingehen sollte. Ich öffnete die Beifahrtertür und erkannte, dass es Mathilde war, die am Steuer saß. Sie trug wie ich immer noch die Unterwäsche, die sie schon getragen hatte, als ich an ihrem Rücken eingeschlafen war. „Fahren wir hinauf auf die Mathildenhöhe“, rief ich fröhlich und strich mit einem Handrücken über die Haut an ihrer Schulter. „Dort im Platanenhain, dort ist das Paradies.“
Michael, 21. Mai 2021.
Surreal!
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Einmal mehr köstlich unterhaltsam!
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