Der Hufschmied

Theo kam als einer der gefragtesten Hufschmiede Europas bei vielen Turnieren vor Ort zum Einsatz und kümmerte sich in bester Manier nicht nur um edle Springpferde. Die gestrige Ridersparty dauerte wieder bis in die Morgenstunden und er wachte neben einer brünetten, hübschen Turnierteilnehmerin auf. Er wollte sich gerade aus dem großräumigen Wohnwagen schleichen, als er ihre Stimme hörte: „Theo, bleib noch ein wenig, wir können doch gemeinsam frühstücken oder…“. Dieses „oder“ kannte er schon und so musste er am Morgen wieder alle Manneskraft sammeln. Als er danach mit ihr frühstückte, war ihm bewusst, dass er wieder einmal nur ihre Startnummer, aber nicht ihren Namen kannte. Startnummer 17 war jedenfalls eine der Favoritinnen auf den Gesamtsieg des European Young Riders Cup. Vermutlich hieß sie Pia. Das Problem am European Young Riders Cup war, dass die Teilnehmermnnen und Teilnehmer unter 25 Jahre sein mussten während er als Hufschmied ungerechterweise vor sich hinalterte. Das erste Mal hatte er sich mit 30 Jahren zu alt gefühlt, mit 40 Jahren fand er sich genau richtig, jetzt mit deutlich über 50 Jahren kamen ihm aber schon wieder leise Zweifel. Die Nacht mit Pia war nicht schlecht oder hieß sie doch Mia? Während er den Beluga Kaviar aß und etwas Champagner schlürfte, zog sich Mia an, was Theo mittlerweile fast mehr genoss als das Ausziehen, und schaute auf die Uhr. Der Turnierstart war erst kurz nach Mittag, sodass sie noch genügend Zeit hatte. Theo staunte immer wieder, wie schnell sich die jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach den Riderspartys erholten, während er vor Nachmittag kaum richtig einsatzfähig war. Theo sah Mia an, sie lächelte wissend und plötzlich war ihm klar, dass er nicht altern wollte. Diese jungen Frauen ließen ihn in seiner Jugend verharren, er konnte mittlerweile locker deren Vater sein. Er kam zum Entschluss, dass er die Turnierserie verlassen musste, wenn er endlich erwachsen werden wollte. Vielleicht könnte er den Beruf wechseln, Betreuer des Ladies-Fußball-Cup Ü30 werden, Ü40-Partys organisieren oder eine Partneragentur für reife Männer und Frauen gründen. Er trank das Champagnerglas aus, Mia küsste ihn gerade nochmals, als es am Wohnwagen klopfte. Mia öffnete und begrüßte ihre Mutter. Eine blonde Frau, keine vierzig, sehr attraktiv. „Ah, sehr schön, du hast den Hufschmied schon organisiert“, eröffnete sie mit verschmitztem Gesichtsausdruck das Gespräch. Theo war hingerissen, stammelte ein paar Wörter und schenkte sich vor Aufregung nochmals Champagner nach. Ihre Mutter verlangte auch nach einem Glas und unterhielt sich prächtig mit Theo. Mia zwinkerte Theo zu und verließ den Wohnwagen Richtung Pferdestall. Theo und Mias Mutter küssten sich bereits kurz danach und verschlossen die Wohnwagentür. Eine Stunde später war Theo völlig klar, dass er dem European Young Riders Cup erhalten bleiben würde. Die Reiterinnen sollten in Zukunft nur mehr eine Ausnahme sein, die Mütter das täglich Brot. Er fühlte sich jetzt so richtig reif und verantwortungsbewusst. Außerdem könnte er in dreißig Jahren immer noch schauen, ob eine Großmutter ihre Enkelin begleiten würde. Als Sia am Nachmittag mit der Startnummer 17 eine fehlerfreie Runde hinlegte und den Sieg einfuhr, glaubte er die Erklärung für seinen unglaublichen schnellen Reifeprozess zu kennen: Die ägyptische Göttin der Weisheit und Erkenntnis hatte wohl ihre Finger im Spiel.

Harald, 21. Mai 2021.

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