Jenseits von Eden

Cathy hatte einen klaren Berufswunsch, sie wollte Prostituierte werden. Die Eltern waren zwangsläufig etwas weniger begeistert, schließlich würde der bürgerliche Ruf darunter doch etwas leiden. Während andere Töchter BWL oder Rechtswissenschaften studierten, wählte Cathy Philosophie. Besonders vertiefte sie sich in das Fach Geschlechtertheorien und erfuhr unter anderem, dass Männer immer weiblicher wurden. Der Abschluss des Studiums gelang in Rekordzeit, obwohl sie einige Praxismonate für ihren Berufswunsch bereits absolvierte. Die Eltern wurden dabei immer wieder in dem kleinen Dorf, in dem sie wohnten, bemitleidet. Man habe davon gehörte und es müsse wohl besonders schlimm für sie als Eltern sein, wenn ein Kind so abgleitet. Die Eltern liebten aber Cathy wie zuvor und hatten sich mit dem Beruf zwangsläufig angefreundet. Als Prostituierte startete sie in einem kleinen Etablissement etwas außerhalb der Stadt. Sie verfügte bald über eine anschauliche Schar ein Stammkunden und der Betreiber verlangte auch keine allzu große Miete, was dazu führte, dass sie innerhalb von wenigen Jahren zu einem stattlichen Vermögen kam. Sie kaufte davon im Zentrum der Stadt ein vierstöckiges Wohnhaus und bekam dafür die Genehmigung zur Prostitutionsausübung. Aufgrund des regen Zulaufes konnte sie die vorhandenen Zimmer allesamt weiter an junge Frauen vermieten. Diese mussten ausnahmslos zumindest ein Studium vorweisen können bzw. kurz vor dem Abschluss stehen. Männer profitierten somit nicht nur in körperlicher Weise, sondern erhielten auch Unterricht, um ihr männliches Profil etwas nachzuschärfen. Manche Männer verzichteten sogar ganz auf die physische Zuneigung und nahmen nur mehr Beratungsstunden in Anspruch. Interessanterweise verabschiedeten sich auch immer wieder Stammkunden, da – so die Formulierung der Männer – sie nun aufgrund der angebotenen Dienstleistungen auch in der freien Wildbahn zu genügend Abschüssen kommen würden. Da sich das Leben der Eltern im Dorf nicht besserte und die Berichte über die braven Schwiegersöhne und -töchter die Eltern schon richtig nervten, beschloss Cathy ihnen eine – so wie sie es nannte – kleine Villa mit einer Wohnfläche von 270 m2 samt 1.200 m2 Grund in einer der besten Wohngegenden der Stadt zu kaufen. Ihre Eltern waren zuerst gegen den Umzug, schätzten dann aber sehr rasch die Vorzüge dieser zentralen Lage. Bald kannten sie die umliegenden Caféhäuser und hatten regen Kontakt mit vielen Menschen. Auch die Herkunft des Geldes wurde nie verschwiegen, fand aber in der Stadt auch nicht wirklich weiter Beachtung. In der Villa fanden nicht nur einmal legendäre nächtliche Empfänge mit einer illustren Runde statt während im Nachbarhaus des ehemaligen Wohnorts am Sonntagnachmittag bei Kaffee und Kuchen die Karriere des Sohnes in der Bank, der nun auch über ein Firmenauto verfügen würde, gefeiert wurde. Manchmal, aber wirklich nur manchmal, kann auch über die Sünde geherrscht werden.

Harald, 6. August 2021

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