„Eine Biene im Herbst“, so resümierte Bernd, „hat es auch nicht leicht“. Er dachte an Woody Allen und dass das Leben tatsächlich voller Leid, Krankheit, Schmerz wäre – und dann auch noch zu kurz. Bernd sah die Biene den letzten Nektar suchen, sicher dem Tod geweiht und er wollte eigentlich gleich mit ihr sterben. Ein letzter Löffel Honig, ein letztes Summen und dann gekonnt im besten Sinne des Wortes den Abflug machen, wer könnte es den Beiden denn übelnehmen? Die Biene hatte einen herrlichen Sommer, Bernd nach seiner Scheidung im Frühjahr dieses Jahres übrigens auch. Als Mittsechziger machte er mit seiner fast 40 Jahre jüngeren Freundin eine durchwegs gute Figur. Dass diese im indian summer mit einem noch älteren Mann durchgebrannt war, war eine herbe Niederlage. Er hätte es wohl verkraftet, wenn dieser zumindest vermögender wäre, aber auch hier Fehlanzeige. Also drehte er sich wieder zu der Biene und glaubte in ihren Augen so etwas wie Traurigkeit zu sehen. Vielleicht könnten er und die Biene im selben Grab beerdigt werden. Er stellte sich in Gedanken vor, wie die Biene auf seiner Zunge sitzen würde, beide tot. Das Bild versetzte ihn merkwürdigerweise in eine positive Stimmung. Warum eigentlich warten, bis er tot wäre. Er lief also Richtung Biene mit ausgestreckter Zunge los und verfolgte sie über die halbe Wiese. Die Biene dachte gar nicht daran, sich auf seiner Zunge niederzulassen. Der Wahnsinnige würde sie wohl noch verspeisen, ohne zu wissen, dass sie eine Winterbiene war und gar nicht daran dachte, mit ihm gemeinsam zu sterben, zumindest nicht jetzt. Irgendwie geriet die Biene außer Atem und griff so zu einem Ablenkungsmanöver. Eine jüngere Frau saß in hundert Meter Entfernung auf einer Bank. Die Biene flog in diese Richtung und Bernd wägte sich mit herausgestreckter Zunge beinahe am Ziel. Nur noch ein Meter und die Biene würde ihren von ihm zugewiesenen Platz einnehmen. Dabei übersah er die Bank und stolperte mit seiner Zunge direkt auf die junge Frau. Diese nahm das Missgeschick mit Humor und meinte, ob die stürmische Art seinem Alter angebracht wäre. Er küsste sie gleich nochmal, denn wann ergeben sich den wieder solche Gelegenheiten, vermutlich – wenn überhaupt – erst im nächsten Frühjahr. Innerhalb einer Sekunde war ihm klar dass das mit dem Sterben jetzt doch nochmals warten könnte. „Stürmisch“, führte er aus, „ist keine Frage des Alters.“ Die junge Frau bejahte das und küsste ihn. „Da können ja 25-Jährige nicht mithalten!“, stieß sie anerkennend hervor. „Leider wissen das nur so wenige Frauen…“, dachte Bernd leise, Er kam zum Schluss, dass es eigentlich reicht, wenn eine Frau das wusste. So wurde es für Bernd ein goldener Herbst, für die Biene blieb die Frage, warum Menschen sich so verhalten wie sie sich verhalten.
Harald, 7. Oktober 2022