Tischtennis

Hilmar, der erst wenige Tage zuvor in die Wohnanlage in der Beethovenstraße gezogen war, stieg zum ersten Mal hinunter in den Gemeinschaftskeller, um seinen Anspruch auf eine Mitbenutzung der dort installierten Freizeitanlagen zu deponieren. Im Tischtennisraum traf er auf ein asthmatisches Ehepaar, das sich mit seinen Schlägern und dem kleinen Ball erbärmlich abmühte.

Er gebe ihnen noch fünf Minuten, sagte Hilmar, nachdem er sich vorgestellt hatte. Danach würde er sie, die Eheleute, bitten, den Tisch zu verlassen, damit er, Hilmar, mit seinen Bären eine Partie spielen könne.

Das sei grundsätzlich sehr löblich, erwiderte der asthmatische Ehemann, dass er, Hilmar, seine dicken Kinder zum Sport ermunterte, damit sie ein wenig abspeckten. Es sei aber auch so, dass er, Helmut, und seine Gattin, Genoveva, seit Jahren jeden Mittwoch eine Stunde Tischtennis spielten. Sie hätten erst zwanzig Minuten zuvor begonnen und würden die ihnen zustehende Stunde auf jeden Fall ausnutzen.

Sie hätten ihn wohl missverstanden, sagte Hilmar. Er habe keine dicken Kinder. Es handle sich tatsächlich um drei ausgewachsene Braunbären, die sich bei dem Spiel mit dem kleinen Ball nach jahrelangem Training äußerst geschickt anstellten.

Er solle sich nicht über sie lustig machen, tadelte Genoveva und lupfte den Ball kraftlos übers Netz zu ihrem Gatten. Viele Kinder seien heutzutage zu dick. Das sei längst keine Schande mehr. Solche Kinder bräuchten einfach geeignete Diäten und genug Sport. Dann käme alles bald wieder ins Lot.

Hilmar lachte ein wenig verzweifelt auf. Er werde seine drei Bären, die noch oben in der Wohnung warteten, nun mit seinem Mobiltelefon anrufen und sie in den Keller herunterbitten.

Das solle er ruhig tun, sagte Helmut. Genoveva und er würden auf jeden Fall weiterspielen, bis die dicken Buben da seien.

Helmut tätigte seinen Anruf. Wenig später schlug draußen jemand gegen die Kellertür, vor der das Ehepaar auch noch ein ungeduldiges Gebrumm vernahm.

Seine dicken Buben gebärdeten sich ja wirklich wie Bären, konstatierte Genoveva. Er, Helmut, solle sie hereinlassen, damit sie sich vorstellen könnten.

Hilmar öffnete die Tür. Drei ausgewachsene Braunbären stürmten herein, pflanzten sich vor Helmut auf und hoben drohend ihre Tatzen.

„Das sind ja echte Bären!“, rief Genoveva, deren Knie von einem Augenblick auf den nächsten unkontrollierbar schlotterten. „Was wollen sie von meinem Mann?“

„Im Grunde genommen gar nichts“, erklärte Hilmar. „Sie werden nur rasch ungehalten, wenn sie nicht sofort Tischtennis spielen dürfen, wenn ihnen danach ist. Ich nehme an, Sie und Ihr Mann werden Ihre Partie wohl trotzdem zu Ende bringen wollen.“

„Auf keinen Fall!“, flüsterte Helmut, dem der kalte Schweiß ausgebrochen war. „Die Bären würden uns umbringen.“

„Das ist denkbar“, sagte Hilmar. „So weit haben sie es aber bisher noch nie getrieben. Sie sind aber in der Tat meistens ein bisschen ungestümer als dicke Buben.“

„Lassen Sie uns einfach laufen!“, keuchte Helmut. „Das nackte Leben ist uns schon genug.“

Die Bären brummten bedrohlich.

„Selbstverständlich“, erwiderte Hilmar. „Wir wollen Ihnen nichts zuleide tun. Uns geht es nur ums Tischtennis Spielen.“

Die Bären versperrten dem Ehepaar den Weg zur Tür.

„Was sollen wir tun?“, flüsterte Genoveva.

„Gehen Sie langsam hinüber zu Ihrem Mann“, sagte Hilmar. „Ich halte derweil die Bären in Schach und lenke sie ab.“

Genoveva nickte und setzte sich mit winzigen Schritten in Bewegung, während Hilmar den Bären ein paar Tischtennisbälle hinwarf, die diese begeistert auffingen und zerbissen.

Als die Eheleute sich am selben Tischende befanden, gab Hilmar ihnen ein Zeichen, dass sie nun so schnell wie möglich fliehen sollten. Er könne die Bären nicht mehr lange aufhalten.

Helmut und Genoveva ließen ihre Schläger auf die Tischplatte fallen und suchten das Weite. Zu ihrem Unglück verloren die Raubtiere augenblicklich jegliches Interesse am Tischtennis und an Hilmar, den sie mit ein paar Tatzenhieben äußerst unsanft aus dem Weg räumten. Sie nahmen die Verfolgung des Ehepaars auf.

„Was sollen wir bloß tun, Genoveva?“, rief Helmut panisch. „Wenn sie uns kriegen, werden sie uns ausweiden.“

Sie liefen keuchend durch die verwinkelten Gänge im Keller.

„Ich habe eine Idee!“, erwiderte Genoveva. „In unserem Abteil liegen doch noch ein paar Wildbienennester, die uns deine Schwester zum Hochzeitstag geschenkt hat. Wenn wir Glück haben, sind noch Honigreste in den Nestern.“

„Versuchen wir es!“, rief Helmut. „Es ist unsere einzige Chance!“

Da es nach Meinung der Eheleute in ihrem Abteil nichts Wertvolles zu holen gab, hatten sie von Anfang an auf ein Vorhängeschloss verzichtet, was sich in jener Situation als der entscheidende Vorteil erwies.

Genoveva und Helmut rissen die Holztür auf, holten die Nester aus den Regalen und rollten sie den heranstürmenden Bären vor die Hinterfüße. Im letzten Augenblick zog Helmut die Tür von innen wieder zu und arretierte sie mit ein paar alten Langlaufskiern. Die Bären brachen unverzüglich die Bienennester auf und leckten mit ihren Zungen gierig die Honigreste heraus. Einige Minuten später trollten sie sich gelangweilt und ließen die Eheleute allein im Keller zurück.

Hilmar und Genoveva warteten noch über eine Stunde, ehe sie es wagten, ihr Kellerabteil wieder zu verlassen. Sie schlichen zurück in den Gemeinschaftskeller. Hilmar saß immer noch auf dem Boden, zwar bei Bewusstsein, aber immer noch benommen von der rüden Attacke seiner Bären.

„Es tut mir leid wegen der Unterbrechung“, murmelte er. „Jetzt können Sie beide Ihre Partie ungestört zu Ende bringen.“

„Nach allem, was hier vorgefallen ist, werden wir nie wieder Tischtennis spielen“, erwiderte Genoveva.

Helmut holte das letzte Wildbienennest hervor, das er hinter seinem Rücken verborgen gehalten hatte, und stülpte es Hilmar über den Kopf.

Michael, 7. Oktober 2022

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