Vielleicht sind mehr Bienen lesbisch als man vermutet hätte

Anlässlich einer Übersiedlung fiel der Biene Maier, die längst erwachsen war, ein altes Notizbuch in die Hände. Sie blätterte es durch und ertappte sich dabei, dass sie in verschollen geglaubten Erinnerungen schwelgte. Als sie plötzlich unerwartet auf Willis Telefonnummer stieß, wurde sie ein wenig wehmütig. Sie hatte schon seit ewigen Zeiten keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt. 

Sie konnte ihn aber doch gleich anrufen, dachte sie, ja, warum eigentlich nicht? Ein wenig bang tippte sie die Nummer ein und wartete, dass sich jemand meldete. 

„Hallo?“, sagte eine vertraute näselnde Stimme am anderen Ende, und doch klang sie ein wenig anders als früher, wie Maier fand, ein wenig weicher und höher. „Wer ist da?“

„Willi?“, sagte die Biene Maier. „Bist du es? Hier spricht die Maier.“ 

„Ja, äh, nein“, erwiderte die Stimme. „Ich bin es und ich bin es nicht. Es ist ein wenig kompliziert. Aber ich freu mich! Mensch, Maier, wir haben ja ewig nichts mehr voneinander gehört. Wie geht’s dir?“ 

„Mir geht’s gut“, erwiderte Maier. „Aber das musst du mir jetzt erklären, wie du das meinst, dass du es bist oder nicht.“ 

„Ja, äh, es ist so“, druckste die Stimme herum. „Ich bin keine Drohne mehr. Ich bin jetzt auch eine Biene. Ich habe mich umoperieren lassen.“ 

„Mensch, Willi“, rief die Biene Maier. „Das ist ja eine tolle Neuigkeit! Ich freue mich für dich. Ich hab’s ja damals schon gespürt, dass du anders bist.“ 

„Danke, Maier!“, seufzte die Stimme. „Ich heiße jetzt aber nicht mehr Willi.“ 

„Ja, natürlich!“, rief Maier. „Wie dumm von mir! Du bist ja jetzt auch ein Mädchen. Wie heißt du denn jetzt?“ 

„Ich bin die Biene Müller“, sagte die Stimme. „Da habe ich lange nachgedacht!“ 

„Ein toller Name!“, rief Maier begeistert. „Mensch, Willi, äh, Müller, ich kann es noch gar nicht richtig fassen, was passiert ist!“ 

Dann hatte sie plötzlich eine Idee. „Sag, wollen wir uns nicht wieder einmal treffen? Ganz spontan?“ 

„Ehrlich gesagt, lieber nicht“, sagte die Biene Müller. „Ich habe nämlich eine feste Freundin. Die wird leicht eifersüchtig und sieht es gar nicht gern, wenn ich mich mit anderen Bienen treffe.“ 

„Ach, schade!“, erwiderte Maier. „Aber ich versteh’s. Wie heißt sie denn, deine Freundin? Kenn ich sie?“ 

„Die kennst du glaub ich nicht“, sagte Müller. „Es ist die Biene Beckenbauer.“ 

Da wurde es der Maier mit einem Schlag doch zuviel. Es gab ihr einen Stich ins Herz, als sie an früher dachte, und sie legte grußlos auf. Das Notizbuch warf sie aus dem Fenster.

Michael, 21. Oktober 2022.

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