Gastbeitrag: Wie es kam, dass Herr Emm ein kafkaeskes Erlebnis hatte

Als Herr Emm eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einer ungeheueren Biene verwandelt. Mühselig versuchte er sich auf den Bauch zu drehen. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine waren ihm dabei nicht hilfreich und seine riesigen durchscheinenden Flügel schimmerten ihm hilflos vor den Facettenaugen.

Herr Emm dachte: „Wie wäre es, wenn ich noch ein wenig weiterschliefe und alle Narrheiten vergäße,“ aber das war gänzlich undurchführbar, denn er war gewöhnt, auf der rechten Seite zu schlafen, konnte sich aber in seinem gegenwärtigen Zustand nicht in diese Lage bringen. Also krabbelte er aus seinem sechseckigen Bett, das einen fremdartigen Wachsduft verströmte.

Nur in seine Flügel gehüllt begab er sich ins Esszimmer um dort sein Frühstück einzunehmen und wirklich fand Herr Emm dort eine Kanne dampfenden, wohlriechenden Zuckerwassers vor. Auch die Zeitung lag am Platze. Herr Emm fand es sehr entspannend das Blättchen mit zwei Beinen vor die Augen zu halten und mit einem weiteren Umzublättern. Polypedie hat auch ihre Vorteile, dachte er.

In der Morgenzeitung nur die üblichen Horrormeldungen. Hornissen aus dem Osten belagerten noch immer ein beinahe Nachbarvolk. Zuckerwasser für den Winter wird wahrscheinlich knapp. Dreiste Diebe haben es auf Honigvorräte abgesehen und zapften diese gleichsam aus den Waben ab. Gedankenverloren steckte Herr Emm sein Saugrohr in den Ausguss der Zuckerwasserkanne und nahm einen guten Schluck von seinem süßen Morgentrunk. Anatomisch nicht unpraktisch, dachte er. Das tägliche Blatt zu lesen und es nicht aus der Hand legen zu müssen um das morgendliche Süßgetränk zu genießen.

Herr Emm wäre beinahe an seinem Frühstückstrunk erstickt, als er die nächste Meldung las. In der Rubrik „Aus aller Welt“ stand da: 

Mexico: Friedlicher Bienenschwarm von halbnackten Riesinnen aufgeschreckt.

Eine schwärmende Gruppe junger Bienen mit ihrer Königin wurden in ihrer Ruhepause von zwei Riesinnen auf das Empfindlichste gestört. Die wenig bekleideten Monster fuchtelten mit surrealen Schlaginstrumenten herum um die Honigbienen von ihrem Ruheplatz, den sie vollkommen gewaltlos instandbesetzt hatten zu vertreiben. Schließlich holten sie auch noch einen sogenannten Imker zu Hilfe, der unsere fleißigen Schwestern einkerkerte und an einen unbekannten Ort verbrachte.

Der mexikanische Ableger der NGBO „Bee Free“ protestierte aufs Schärfste gegen das unangebrachte Vorgehen und forderte die sofortige, bedingungslose Freilassung der Geiseln. „Sonst können wir keine Verantwortung für die Handlungen unserer Schwestern übernehmen“ wurde eine Sprecherin der Gruppe zitiert. Auch ein Zusammenschluss mit der Gruppe VESPA, bekannt für ihre aggressive Vorgangsweise, würde angedacht, so die Sprecherin von Bee Free.

„Ungeheuerlich,“ empörte sich Emm. Er wollte gerade umblättern, als er sich nicht mehr rühren konnte. Seine Beinchen hingen quasi gelähmt gen Erdboden und da er auf seinen zarten Flügeln saß, konnte Herr Emm sich nicht mehr im geringsten Maße bewegen.

„Zu Hülfe“ summte er immer aufgeregter und -gebrachter „rasch, rasch, zur Hülfe, Schwestern! Biene in Not!“ Plötzlich vernahm er eine vertraute Stimme: „Aufwachen Emm, du hast im Schlaf gesummt und du bist wieder einmal vor dem Computer eingeschlafen. Typisch Food-Koma“ meinte seine Frau.

Herr Emm schüttelte den Kopf und meinte nur: „Aber die Riesinnen, die halbnackten Riesinnen….“

„Papperlapapp – halbnackte Riesinnen – ich will gar nicht wissen was du so träumst, Emm. Ich will es gar nicht wissen…. Und wie ist es dir gelungen deine Arme in den Armlehnen einzuzwicken, Emm?“

Herr Emm blickte seitlich an sich herab und sah, dass seine Arme praktisch unter den Armlehnen des Schreibtischstuhls eingeklemmt waren und er sich deshalb nicht bewegen konnte. „Polypedie“ setzte er an, besann sich aber und sagte dann nur „Keine Ahnung, aber danke fürs Wecken“

Sein Blick fiel auf den Bildschirm seines Computers, wo noch immer die Sportsite des größten Fernsehsenders des Landes geöffnet war. Dort las Herr Emm:

Bienenschwarm stört Spielbetrieb in Guadalajara 

Beim WTA-1000-Turnier im mexikanischen Guadalajara hat ein Schwarm Bienen für die Verschiebung der Erstrundenpartie zwischen der Tschechin Petra Kvirtova und der US-Amerikanerin Bernarda Perla gesorgt.

In den sozialen Netzwerken veröffentlichte der Veranstalter Bilder, die unzählige Bienen an der Überdachung des Schiedsrichter-Hochstuhls zeigen.

So kam es, dass Herr Emm ein kafkaeskes Erlebnis hatte.

© Martin Siegel, 28. Oktober 2022.

Namen, Orte und Handlung sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen ist zufällig und ziemlich unbeabsichtigt.

Herzlichsten Dank an Franz K. (nicht verwandt mit Johann) für die ungefragte Benutzung von Ausschnitten aus seiner Erzählung „Die Verwandlung“ und an sport.orf.at für die Inspiration und eine kuriose Tennismeldung.

2 Kommentare zu „Gastbeitrag: Wie es kam, dass Herr Emm ein kafkaeskes Erlebnis hatte

  1. Sehr schön, mal wieder von Herrn Emm zu lesen. Polipedie wünsche ich mir manchmal auch beim Heimwerken, zumindest eine dritte Hand wäre manchmal echt hilfreich.
    Tolle Anspielungen auf das Weltgeschehen übrigens, sehr kreativ.

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