Bienenerwachen

Mein Lebensstil war nicht immer der Gesündeste, kaum Sport, zu viel Alkohol, zu viele Affären. Zwei Scheidungen waren selbst für mich völlig nachvollziehbar, mit mehr Sport wäre das einfach nicht passiert. Die letzte Scheidung war aber nur Pech. Der Herzinfarkt mit 47 musste wohl kommen, aber gleich zweimal Herzstillstand war nicht vorhersehbar, die Wiederbelebung klappte zumindest, wenn auch mit beachtlichen Nebenwirkungen. Ich wachte in der Intensivstation nach der zweiten Reanimation auf und sah eine Biene vor mir am Bett fliegend. Sie lächelte dabei, ein Engel, wundervolle blaue Augen. Die Biene umsorgte mich, in ihrer Nähe konnte auch ich fast fliegen. Das ging gefühlte Tage so, immer wenn ich die Biene an meinem Bett sah, ging es mir deutlich besser. Einmal saß sie sich auf meinen Schoß und ich genoss ihre Nähe sehr. Da es mir so gefiel, wiederholte die Biene dieses Ritual mehrmals. Es war immer atemberaubend, ich verlor vor Freude manchmal fast den Verstand. Als die Biene am späten Nachmittag wieder bei mir war, spürte ich wieder diese Nähe, diese Wärme, diese Aufregung. Nach wenigen Minuten war es anders, ich fror leicht, ein Luftzug durch eine geöffnete Tür störte mein Zusammensein mit der Biene. Dann ein Schrei, ein seltsam mir bekannter Schrei. Dieser Schrei ließ mich augenblicklich zur Besinnung kommen, ich kannte diesen Schrei von meiner zweiten Frau, den sie ausstieß, als sie zu früh nach Hause kam. „Ich kann Dir alles erklären“, antwortete ich reflexartig. „Du hinterlistiges Arschloch“, bekam ich als Antwort, „selbst auf der Intensivstation kannst du es nicht lassen“. „Es ist doch nur eine Biene“, drehte ich mich antwortend zu ihr um. „Eine Biene?! Eine Biene?!“, kam die Antwort diesmal mit dem Schlag einer Handtasche, diese zumindest aus dem Hause Gucci. Irgendetwas stimmte hier nicht. Warum verdammt noch mal regt sich meine Frau wegen einer Biene so auf. „Schau sie doch an“, sagte ich und drehte mich nun zur Biene. Ich traute meinen Augen nicht, die Biene war eine 24-jährige Intensiv-Krankenschwester, durchaus hübsch anzusehen, ihr Höschen lag noch auf meinem Bett. „Ich dachte, sie wäre eine Biene“, erklärte ich ihr nun wahrheitsgemäß. Wieder einmal bestätigte sich meine Erfahrung, dass plausible Erklärungen der eigenen Frau manchmal nicht zugänglich waren. Drei Wochen später waren wir geschieden, die Villa konnte sie behalten, da Jasmin sowieso einen Neubau bevorzugte und mein Vermögen noch gerade im zweistelligen Millionenbereich geblieben war. Jetzt wenige Wochen vor dem Jahresende kann ich behaupten, es war nicht mein Jahr, dem Tod von der Schippe gesprungen, eine teure Scheidung und jeden Samstag der obligatorische Clubbesuch mit viel zu viel Champagner, den Jasmin so liebt. Aber ich bin ein positiver Mensch, es hätte alles viel schlimmer kommen können, die Biene hätte auch die deutlich übergewichtige Nachtschwester, die kurz vor ihrer Pensionierung stand, sein können. Der neue Mann meiner Ex-Frau berichtete mir,  dass er das Wort Biene nicht in ihrer Gegenwart erwähnen dürfte, was ich immer noch nicht ganz verstehe.

Harald, 18. November 2022.

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