„Sterben und werden“, dachte Norbert, als er auf dem Waldboden auf die bunten Blätter trat und diesen für den Herbst typisch modrigen Geruch wahrnahm. Das Ziel seiner Wanderung war die sogenannte „Wunderfichte“ im Salzburger Land. Eine Fichte dicht von Bewuchs, Kinder spielen dort, ein Hinunterfallen aufgrund der fast schon nach oben gebogenen Äste gar nicht möglich, steht mächtig am Waldrand. Der aktuelle Wanderführer sprach von vielen Hinweisschilder, eines davon konnte Norbert hinter einigem Gestrüpp erkennen und es führte ihn steil hinunter über einen kleinen Weg. Unten angekommen kam er nach der Überquerung eines kleines Baches auf einer Lichtung an. Er suchte den Waldrand ab, kein Hinweisschild, keine Wunderfichte zu entdecken. Etwas weiter oben ging eine Straße vorbei, die er nach wenigen Gehminuten erreichte. Dort kamen einige Einheimische vorbei, der erste hörte noch nie von einer Wunderfichte, die zweite sprach von einer Wundertanne, deren Ort sie aber nicht genau nennen konnte, nur schemenhafte Erinnerungen an die Kindheit. Ein dritter war die Rettung. Er war etwas älter, konnte den genauen Standort schildern, aber auch deren Schicksal. Sie war einst prächtig, riesenhaft, er war mit seinem Großvater oft dort. Vor fünf Jahren verlor sie alle Nadeln, war nur mehr ein Holzgerüst, doch noch stattlich. Vor drei Jahren halbierte sie ein Sturm und letztes Jahr schlug auch noch ein Blitz ein und seitdem liegen die Reste in einem Graben. Norbert bedankte sich herzlich, der Einheimische meinte, er wäre trotz höherem Alter wohl doch noch zu gebrauchen. „Doch noch zu gebrauchen“, hallte es in Norbert nach, die Melancholie des Herbstes, nicht wissend ob den Winter überlebend ein neues Frühjahr warten würde. Es ging nun den selben Weg zurück, steil bergauf. Oben angekommen bog er wie beschrieben scharf rechts ab und sah nach wenigen Metern den Graben. Ein umgestürzter Baum zeigte direkt auf das Baumskelett und er balancierte auf diesem Baum gute zwanzig Meter zur Wunderfichte. Seine Schritte wurden langsamer, „doch noch zu gebrauchen“, dachte er wieder. Am Ende stand er vor ihr, der „Wunderfichte“. Es schien so, als hörte das Wunder gar nicht mit dem Leben auf, als wäre dahinter immer noch etwas, dass zu gebrauchen ist, nicht sofort greifbar, kaum zu beschreiben, nur zu spüren. Er griff nach ihr, hörte das einstige Kinderlachen, als wäre alles Erlebte in ihr gespeichert, ruhend in einem Graben, nicht vergessen. Norbert wird ihre Geschichte aufschreiben, ihr ein Denkmal setzen, ein Wunder, das nicht aufhören sollte. Er brach nach einer halben Stunde wieder auf, genoss die letzten warmen Sonnenstrahlen, kam am Ausgangspunkt fast an. Kurz davor befand sich ein kleiner Kasten mit einem Glas bedeckt. „Honig aus der Region um fünf Euro“ stand in gelber Farbe auf dem Holz, er öffnete den Kasten und nahm ein Honigglas in seine Hand. „Hergestellt 2016“ las er bedächtig. Eine Zeit, als die Wunderfichte zumindest noch bei Kräften war, im Mai oder Juni sicher blühte. Die Bienen sammelten dort ihren Nektar, war sich Norbert auf einmal ganz sicher. Er schob den Zehn-Euro-Schein in den Schlitz und gab zwei Gläser in seinen kleinen Rucksack. Zuhause angekommen öffnete er ein Glas. Die Süße nahm er ganz besonders wahr, die Wunderfichte lebte weiter, er schmeckte sie, mit „zu gebrauchen“, war ihm plötzlich klar, kann das Leben niemals beschrieben werden, nicht einmal der Tod.
Harald, 4. November 2022