Ring

Belinda, die einen Reinheitsring trug, als Zeichen dafür, dass sie vor einer möglichen Verehelichung geschlechtlich enthaltsam leben wollte, erschien eines Abends mit einer Flasche Champagner bei ihrer Mutter, die seit dem Tod ihres Gatten als Witwe ihr Dasein fristete. Es gebe etwas zu feiern, erklärte die Tochter bedeutsam. Das Warten habe nun ein Ende. Sie habe den Richtigen gefunden und wolle mit ihm binnen Monatsfrist den heiligen Bund der Ehe eingehen. Sie freue sich aufrichtig, erwiderte die Mutter und holte zwei langstielige Gläser aus einer Vitrine. Sie sei schon begierig zu erfahren, wer denn der Glückliche sei. Er heiße Edwin, sagte Belinda, und sei ein höchst erfolgreicher Gebrauchtwagenhändler. Die Mutter schlug sich alarmiert die Hände vors Gesicht. Sie könne keinesfalls zulassen, dass sie, Belinda, ihre einzige Tochter, einen Gebrauchtwagenhändler heiratete! Sie solle an den Reinheitsring denken, den sie, die Mutter, und ihr verstorbener Gatte, ihr, Belinda, geschenkt hätten. Sie habe durch seine Annahme doch kundgetan, dass auch sie nicht bereits gebraucht in den Ehestand treten wolle. Wenn es also partout einer aus der Autobranche sein müsse, dann wenigstens einer, der mit Neuwagen handle! Andernfalls müsse sie ihren mütterlichen Segen verweigern. Belinda, die Derartiges insgeheim befürchtet hatte, erwiderte, dass sie dann eben ohne Segen heiraten wolle. Sie habe ihren Teil der Abmachung erfüllt und sei stets keusch geblieben. Der Vater, warf die Mutter verzweifelt ein, werde sich im Grab herumdrehen, wenn sie, Belinda, nicht einlenkte. Das werde sie in Kauf nehmen, entgegnete Belinda. Sie habe nun bloß noch eine Frage, auf die sie, die Mutter, ihr eine Antwort schulde. Sie wolle endlich hören, welchen Beruf der Vater ausgeübt hätte, als er um ihre, der Mutter Hand angehalten habe. Das tue nichts zur Sache, erwiderte die Mutter. Deswegen werde sie es auch nicht sagen. Sie habe es ohnehin mittlerweile selbst herausgefunden, sagte Belinda. Sie wünsche sich nur noch, dass sie, die Mutter, den Mut besäße, es zu bestätigen. Er sei nämlich Schrotthändler gewesen. Als die Mutter nach langem Zögern endlich nickte, zog Belinda den Reinheitsring von ihrem Finger und warf ihn der Mutter vor die Füße. Anschließend fuhr sie zu ihrem Verlobten und gab sich ihm noch vor der Ehe auf der Rückbank eines gebrauchten Cadillac hin. Der Champagner, den Belinda mitgenommen hatte, steigerte das Vergnügen erheblich.

Michael, 10. Februar 2023

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