Drei Meter

Einmal beschloss der Berufstaucher Karolus Glubsch, als er gerade finanziell ein wenig klamm war, an einem Gerätetauchwettbewerb in der Normandie teilzunehmen. Von dem Preisgeld, das er gewinnen wollte, erhoffte er sich eine Linderung seiner Finanzmisere. Da ihm der Einsatz seiner persönlichen professionellen Ausrüstung untersagt wurde, war er gezwungen, sich bei dem Veranstalter des Wettbewerbs einen Neoprenanzug und ein Drucklufttauchgerät zu leihen. Für die Entrichung der Leihgebühr und für das Startgeld benötigte er einen Sponsor. Das Champagnerhaus Alfred Gratien sagte einen entsprechenden Betrag zu, wenn Karolus Glubsch im Gegenzug ein wenig Werbung für den edlen Schaumwein machte. 

Glubsch zeigte sich einverstanden und ging ans Meer zu der Einstiegsstelle ins Wasser, an der der Wettbewerb beginnen sollte. Ein Instruktor erläuterte die Regeln. Alle Teilnehmer hätten die gleichen Anzüge und Druckluftflaschen mit identischen Atemgasgemischen erhalten. Sieger sei, wer die größte Tauchtiefe erreichte. Der Instruktor wünschte allen Teilnehmern viel Glück. Der Gewinner, verriet er zum Abschluss noch, werde öffentlich von einer echten Meerjungfrau geküsst. Als Karolus Glubsch sich umsah und verstohlen seine Konkurrenten musterte, stellte er zu seinem Entsetzen fest, dass es lauter Berufstaucherkollegen waren, die er noch dazu alle persönlich kannte und die genauso gut tauchten wie er selbst. 

Wenn er gewinnen wollte, brauchte er eine Idee, die ihm einen entscheidenden Vorteil verschaffte. Er inspizierte Anzug und Druckluftflasche und nahm kleine Veränderungen vor, von denen er sich aber nicht versprach, dass sie ihm, Karolus Glubsch, automatisch den Sieg einbrachten. 

Nacheinander wurden die Taucher in alphabetischer Reihenfolge zum Tauchgang aufgerufen. Karolus Glubsch befand sich in vorderen Drittel des Teilnehmerfeldes. Von einem kleinen bemannten U-Boot aus maß ein Jurymitglied die Tiefen, die einzelnen Taucher erreichten. Glubsch gab sein Bestes, spielte seine ganze Erfahrung aus und tauchte so tief, wie er nur konnte. 

Als er schließlich die Oberfläche wieder erreichte, erschien auf der Anzeigetafel für ihn ein Wert von 73 Metern, während all seinen Kollegen, die vor ihm ihr Glück versucht hatten, höchstens 70 Meter zu Buche standen. 

Glubsch freute sich zwar über seine Zwischenführung, glaubte allerdings noch nicht an seinen Sieg. Nach Norbert Notnagels Tauchgang lag er immer noch an der Spitze. Als schließlich auch noch Viktor Vlachzang und Xerxes Xellenstücker die 70 Meter-Marke nicht überboten, liebäugelte Karolus Glubsch zum ersten Mal mit dem Gewinn der Tauchtrophäe. 

Es blieb dabei. Niemand überbot an jenem Tag die 73 Meter. Die Jury rief Glubsch zum Gewinner aus und bat ihn auf die Tribüne, damit er dort seinen Geldpreis und den Kuss der Meerjungfrau entgegennahm. 

Als er schon auf der Treppe stand, sprang plötzlich Viktor Vlachzang aus dem Publikum hervor, überholte Karolus Glubsch, versperrte ihm den Weg und hieß ihn einen elenden Betrüger. Er behauptete, dass Glubsch die Mischung seines Atemgases unzulässig verändert hätte, und begehrte eine Analyse. 

Die Jury ließ die beanstandete Gasflasche untersuchen und stellte fest, dass sich Reste von Champagner darin befanden, was jedoch laut Reglement eindeutig zulässig war. Knurrend gab Vlachzang den Weg frei. 

Karolus Glubsch nutzte die sich ihm bietende Gelegenheit, stellte sich vorne an den Tribünenrand und erklärte dem Publikum, dass er es nur dank des Champagners aus dem Haus Alfred Gratien geschafft hätte, um die entscheidenden drei Meter tiefer zu tauchen. Er trinke den edlen Schaumwein im übrigen mehrmals am Tag. 

Den Scheck, den ihm der Jurypräsident als Hauptpreis überreichte, sackte er sofort ein. Als er seine Lippen spitzte, um den Siegerkuss der Meerjungfrau zu empfangen, rümpfte die Schöne ihre Nase und verweigerte den Kuss. Einen der so penetrant nach Alkohol stinke, küsse sie nicht, sagte sie, auch dann nicht, wenn es sich bei dem konsumierten Getränk um Champagner handle. 

Karolus Glubsch grämte sich nicht über die erlittene Zurückweisung, sondern küsste stattdessen Viktor Vlachzang, der den zweiten Platz errungen hatte und der immer noch knurrend neben ihm stand, spontan auf beide Wangen. Die Küsse des Siegers fielen so feucht aus, dass ihrem Empfänger Speichel von den Backen tropfte, der deutlich wahrnehmbar nach Champagner roch. 

Michael, 26. Mai 2023.

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