Unter all den Malzmägden der Schlossbrauerei zu St. Größenwahn war Adelheid die mit den schönsten Zähnen. Das Leben einer Malzmagd war beschwerlich in jenen Tagen, ein ständiges Säubern und Trocknen und Weichen und Darren und Putzen und Polieren und Mischen, und am zehrendsten von allem war das Suchen des Malzes, wenn es wieder einmal zusammen mit dem Hopfen verloren gegangen war. (Das Suchen des Hopfens war Aufgabe der Hopfenknechte.) Zu all der Plagerei lauerte besonders in den Wintermonaten noch an jeder Ecke der Skorbut, der nicht nur in den Gebissen der Malzmägde wütete, sondern in den Mündern der gesamten Bevölkerung. Zitrusfrüchte, die Abhilfe geschaffen hätten, waren damals unbekannt. Doch Adelheid liebte zu ihrem Glück Sauerkraut, das sie in selbstgetöpferten Gefäßen in jedem Winkel ihrer beengten Schlafkammer hortete und an dem sie sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit erfreute. Gern hätte sie ein wenig mehr Platz gehabt für die vielen Liebesbriefe, die die Hopfenknechte ihr schrieben, aber man konnte eben nicht alles haben. So kam es, dass Adelheids Zähne vom Skorbut verschont wurden und makellos blieben. Sie genoss es, in den spärlich bemessenen Pausen am Rand des Brauereibrunnens zu sitzen und ihre Kauleisten zu blecken und deren Mustergültigkeit im Spiegel der Wasseroberfläche zu bewundern. Eines Tages stand am Brunnenrand ein gewöhnlicher Humpen, mit Bier gefüllt, und Adelheid, die sich schon hingesetzt hatte, ärgerte sich, als plötzlich jemand „Küss mich!“ rief. Sie hatte schon einen der Hopfenknechte in Verdacht, aber als sie sich umblickte, war niemand zu sehen. Adelheid glaubte an eine Täuschung und wollte sich der Betrachtung ihrer Zähne widmen, als sie es noch einmal hörte: „Küss mich!“. Für Adelheid stand außer Zweifel, dass nur der Bierhumpen gesprochen haben konnte. Sie starrte ihn entgeistert an. „Ja, ich habe zu dir gesprochen“, sagte der Humpen zu Adelheid, „küss mich doch bitte!“ „Warum sollte ich dich küssen?“, fragte sie, nachdem sie den ersten Schreck überwunden hatte. „Ich bin“, erläuterte der Humpen, „wie du dir sicher denken kannst, verzaubert, aber kein verzauberter Prinz, sondern ein Bierbaron, der im ganzen Land zahlreiche Brauereien besitzt. Ein böser Widersacher, der sich in ein Hexenbuch eingelesen hat, hat mich in einen Hinterhalt in einem Kellergewölbe gelockt und in einen Humpen verwandelt, damit ich mich nicht mehr um mein Geschäft kümmern kann, das er übernehmen will. Wenn du mich küsst, werde ich erlöst und kann ihn besiegen, und wir können heiraten, und du musst keine Malzmagd mehr sein.“ Adelheid fasste sich ein Herz und küsste den Bierhumpen. Es tat einen Knall und der Humpen verwandelte sich nicht in einen Baron, sondern in ein volles Bierfass. „Da habe ich dich aber sauber hereingelegt!“, kicherte das Fass aus seinem Spundloch, „ich bin gar kein Bierbaron, sondern das Trankfass einer alten Hexe, die mich in ihrem Zorn in einen Humpen verwandelt hat, weil ich undicht geworden bin.“ Adelheid, die sehr enttäuscht war, brachte das Fass zum Schweigen, indem sie ihm einen Zapfen in das Spundloch steckte. Dann kippte sie das Bier in den Brunnen und schleppte das Fass in ihre Kammer und füllte es mit dem Sauerkraut aus ihren Gefäßen, die sie danach entsorgte. Zufrieden stellte sie fest, dass sie nun endlich genug Platz hatte für all die Liebesbriefe der Hopfenknechte, von denen sie irgendwann einen erhören wollte, aber nur dann, wenn er genauso schöne Zähne hatte wie sie.
Michael, 03. November 2018