Er brach früh am Morgen auf. Seine Schneegamaschen saßen perfekt. Im Rucksack befand sich ein kühles Bier, kein Tee, der nur kalt werden würde. Ein paar Nüsse hatte er ebenfalls eingepackt. Das Knirschen des Schnees hatte etwas äußerst beruhigendes. Konsequent, aber nicht hektisch, setzte er seinen Weg Richtung Gipfel fort. Oben am Gipfel freute er sich schon auf sein Bier, zurecht und verdient. Er blickte noch einmal in allen Richtungen und griff siegessicher in seinen Rucksack. Eine kleine Flasche, unversehrt und verschlossen. Er drehte am Verschluss. Kein Drehverschluss, konservativ verschlossen. Er durchsuchte den Rucksack, kein Flaschenöffner, kein Messer, ja nicht einmal ein Feuerzeug. Er schaute die Flasche an und knabberte an ein paar Nüssen, trocken. Ein Felsvorsprung half ihm auch nicht weiter, die Flasche blieb wie sie war. Noch ein Drehversuch, wieder nicht offen. Er fluchte heftig und machte sich mürrisch auf den Weg zurück. Zuhause da würde er dann selbstverständlich die Flasche, nein gleich zwei Flaschen öffnen. Auf halben Weg verflog sein Ärger schon etwas. Am Bahnhof angekommen war er schon fast richtig guter Laune. Spätestens jetzt hätte er auch an geeignetes Gerät zum Öffnen einer Bierflasche kommen können. Im Zug sitzend nahm er nochmals die Flasche aus dem Rucksack. Stolz stand sie da, fast schon wie eine Statue, siegreich. Er musste lächeln, was konnte auch die Flasche dafür, dass sie zu blieb. Als er seine Wohnungstür aufsperrte, setzte er sich an den Tisch und betrachte sie wiederum. Die ungeöffnete Flasche hatte Flair, war interessant. Ein Versprechen für die Zukunft, griffbereit und in voller Frische. Geöffnet musste sie nur noch schnell getrunken werden, würde sonst gar schal schmecken. Ungeöffnet aber reine Schönheit, zukunftsreich, Heimat großer Biere, frei und gläubig. In der Thomasnacht öffnete er sie respektvoll und trank sie in aller Stille und Anmut langsam aus. Dieses Ritual der Winterwanderung mit ungeöffneter Flasche wiederholt er seither bis heute.
Harald, 15. Dezember 2018