Gastbeitrag: Schwerkraftbier

Ich bin Pilot. Mein Flieger ist eine B-25 Mitchell, eine anständige Maschine. Ich arbeite für ein Unternehmen, dass Getränke produziert. Starke Getränke. Kraftbiere. Wir produzieren pure Energie. Unser Genie, der Professor, erfindet die Essenzen. Andere brauen, was er erfindet. Wieder andere bringen den Stoff an den Mann. Ich bin für die Sicherheit in der Luft zuständig, andere für die Sicherheit an Land oder auf dem Wasser. Ich aber für die Luft. Ein anspruchsvoller Job. Die halbe Welt ist unser Feind. Die andere Hälfte ist uns in Dankbarkeit verpflichtet. Wo unser Bier schäumt, blüht das Glück auf.
Man hat den Professor bedroht. Sie wollen ihn kidnappen. Bringen Sie ihn in Sicherheit, fliegen Sie ihn auf die Tuluinsel“, hatte mein Boss mit nervösem Flattern des linken Augenlides gemeint, „und geben Sie auf ihn acht, Mann!
Ich zuckte mit den Schultern, zog mir die Fliegerjacke über. Reine Routinesache. Wozu das Flattern über dem Auge? Der Mann hatte keine Nerven. Ein Sesselschwitzer.
Wir waren fünf: der Professor, seine brünette Assistentin, der Mann mit der schiefen Unterlippe und dem Colt im Brusthalfter, seine sibirische Dogge und ich, ihr Pilot.
Ich packte den Professor auf den Sitz hinter mich, schnürte ihn mit doppelten Gurten fest. Er sollte mir nicht verloren gehen. Hinter seiner Brille rollten kleine, kluge Augen nervös herum. Ich wollte eben der Assistentin den Platz neben mir zuweisen, als sich der Mann mit der Lippe vorschob.
„Das ist mein Platz“, meinte er unmissverständlich und stieß den Hund unter den Sitz. Die Dogge senkte winselnd den Kopf uns zog die Ohren ein.
„Mein Gott, wie süß!“ zwitscherte die Assistentin und beugte sich zu dem Köter hinunter. Ich sah, dass die ersten beiden Knöpfe ihrer mit Maiblumen bedruckten Bluse geöffnet waren. Am dritten spannte sich der Faden wie Fischernylon, wenn ein Hai am Haken hängt. Davor baumelte an einer silberner Kette ein kleiner Engel mit hellblauen Flügeln. Der Hund sabberte und jaulte. Dann schnappte er nach dem Engel. Der Mann mit der schiefen Unterlippe stieß den Hund zurück unter den Sitz: „Zerberus hasst Nähe. Eine falsche Handlung und…“ Der Mann deutete auf die Lippe, die wie ein kleiner, prall mit Blut gefüllter Ballon hinunterhing. „Hat er einmal zugebissen, lässt er nicht mehr locker. Ich musste ihn mit dem Bajonett herunterschneiden.“
Damit waren ein paar Dinge vorläufig geklärt. Ich startete die Maschine. Schwarzer Rauch puffte aus den beiden Triebwerken, dann stolperten die Propeller los. Ich schob den roten Hebel nach vorn, das Flugzeug beschleunigte gemächlich. Ich beobachtete, wie das Rot der Lippe meines Nachbarn immer dunkler wurde, je näher wir dem Ende der Startbahn kamen. Ich ließ mir Zeit, ließ den Vogel noch kurz über den Rasen rumpeln. Im Augenwinkel sah ich, wie die Unterlippe des Mannes zu bersten schien, seine Augäpfel krochen in die Augenhöhlen wie Mäuschen ins Loch vor dem Falken. Dann zog ich die Maschine hoch. Der Mann krallte sich im Leder fest und presste die Knie aneinander. Ich roch Urin. Für einen Piloten ist es wichtig zu wissen, wen er fliegt. Ich schmatzte zufrieden. Der Hund schnarchte. „Im Rudel führt immer der Nervenstärkste“, meinte ich und zog den Steuerknüppel an mich, dass mein Magen vor Freude kribbelte. Der Mann mit der Lippe stöhnte. Wir stiegen auf 16000 Fuß. Die Dämmerung brach herein. Der Ozean breitete sich finster wie schwarzes Linoleum unter uns aus. Ich lauschte den Motorengeräuschen. Alles klang wie gewohnt. Nur ein zartes Klirren war mir neu, es kam von den hinteren Sitzen.
„In einer Stunde sind wir da“, sagte ich beruhigend zu dem Mann mit der Lippe und tätschelte seinen Schenkel. Er grunzte. Sein Hund lag schlafend auf dem Boden. Der Professor rollte die Augen und kritzelte geniale Ideen auf einen Fetzen Papier. Die Assistentin spielte mit ihrer silbernen Kette an ihrem zarten Hals. Der Engel tanzte über den Maiblumen, das war also das zarte Klirren. Es erinnerte mich an die Geräusche der vibrierenden Instrumententafel meiner kleinen Bella Lola, einer bockigen Cessna-162, die ich vor vier Jahren bei einer Bruchlandung für immer in den Wüstensand gesetzt hatte. Es ist dieses fast nicht hörbare Klirren der Orden er Militärs bei den Paraden der Fremdenlegion von früher. Am selben Abend verwandelt es sich zum metallenen Knacken der automatischen Verschlüsse von Kalaschninkows. Klirren macht mich nervös. Es verkündet Unheil. Es sagte mir, ich sollte auf der Hut sein.
Die Sicht wurde schlechter. Man hatte mich beim Abflug auf ein Tief über den Azoren hingewiesen. Die ersten Sturmböen zerrten an der Maschine. Das schwarze Linoleum wurde lebendig und verwandelte sich in ein wütendes Gorillamännchen, das seine gewaltigen Fäuste nach uns reckte.
Der Mann mit der Lippe knurrte zum Professor: „Haben Sie die Formel bei sich?“ Der Professor ignorierte ihn. Nicht nur der Professor, dachte ich, war also in Sicherheit zu bringen, auch die Formel für das neue Bier. Es nennt sich ´Schwerkraft´. Echt starker Stoff. Mein Boss hatte mir nur die halbe Wahrheit verraten. Die Sache war also extrem geheim. Geheimer als geheim.
Ich lauschte wieder den Geräuschen. Ein guter Pilot im Cockpit ist wie ein Primar am Stethoskop. Das Klirren der silbernen Kette war verstummt. Ich hörte das Bollern der Maschinen, das Surren der beiden Propeller, das Säuseln des Seitenruders am Heck, das Glucksen im Tank, das Zirpen der Ventile. Alles war intakt. Dann war wieder das silberne Kettchen zu hören. Der Engel taumelte. Er könnte fallen. Ein böses Omen.
Ich sah zum linken Fenster hinaus. Die Tragfläche vibrierte. Ich sah, wie die Bolzen einer nach dem anderen hochwanderten und aus der Öse sprangen. Dann verschwanden sie hinter dem Flügel. Die Tragfläche war dabei sich abzulösen. Ein Attentat. Sabotage. Man wollte die Formel und den Professor vernichten. Ich war so verblüfft, dass ich nicht einmal versuchte, den linken Flügel zu entlasten. 52 Bolzen verankern jede Tragfläche am Rumpf einer B-25 Mitchell. 32 zählte ich, wie sie sich lösten, dann hörte ich zu zählen auf. Der letzte Bolzen tanzte ein wenig am Ösenring herum, dann war er weg. Ein letztes Beben des Flügels, dann löste sich der Flügel mit einem satten Schmatzen und entfernte sich langsam von der Maschine. Ein frecher Akt der Emanzipation. Für einige Sekunden flog er parallel zu uns, dann heulte der Vierzehnzylinder noch einmal auf. Der Flügel positionierte sich vor uns, verhöhnte uns mit einem Wackeln. Zwei kleine Schleifen zog er vor unseren Nasen. Dann stotterte das Triebwerk, röchelte ein letztes Mal, starb ab. Der Flügel trudelte. Ich sah zerknirscht zu, wie er unter uns verschwand. Die B-25 driftete nach rechts. Die Assistentin schrie gellend. Der Hund spitzte die Ohren. Der Mann mit der Lippe brüllte, ich möge keine dummen Späße machen. Der Professor schwieg und kritzelte auf seinem Zettel. Seine Augen rollten durch die Brille wie Kugelfische im Glas. Ich räusperte mich. Ich hatte eine Durchsage zu machen und griff zum Mikro:
„Hier spricht Ihr Pilot: Wir haben einen Flügel verloren. Das ist kein Grund zur Sorge. Wir werden unseren Flug ruhig und diszipliniert fortsetzen…“
Ich spürte plötzlich die Mündung eines Colts an meiner rechten Schläfe.
„Her mit dem Fallschirm!“, zischte der Mann mit der Lippe. Sein rechter Zeigefinger am Abzug zitterte. Ich griff unter meinen Sitz und reichte ihm den Rucksack mit den Flugunterlagen. Er schnallte ihn sich um, riss die Tür auf und sprang. Er fiel wie ein Stein. Der Hund lugte hinterher. Sein Herrchen würde seine letzte Minute mit dem Suchen nach der Reißleine verbringen. Zerberus misstraute noch einen Moment seiner neuen Freiheit, sprang dann der Assistentin auf den Schoss und sabberte die Blumen auf der Bluse voll. Die Assistentin blickte mich mit großen Augen an. Es waren schöne blaue Augen, und sie flüsterten: „So, Kerl, jetzt zeig, dass Du ein Mann bist.“
Ich griff mit beiden Händen nach dem Steuerknüppel zwischen meinen Beinen. Es war die Stunde des wahren Piloten. Der Moment, wo sich Ballonschaukler von Kerosinbastarden unterschieden. Ja, wir hatten bereits Verluste. Wir hatten bereits einen Mann verloren. Nicht einen von den besten, aber doch einen Mann. Aber wir hatten damit auch Ballast abgeworfen. Manchmal muss man Opfer bringen.
Ich brachte das Flugzeug wieder auf Kurs, aber der schwere Rumpf stellte den Flieger quer zur Flugrichtung. Ich gab vollen Schub, um die Flughöhe zu halten.
„Ich habe unsere Spritvorräte neu berechnet“, unterbrach mich der Professor und tippte auf seine Kritzeleien. Seine Äuglein blitzten. „Der Sprit reicht bis zur Insel. Es ist eine neue Mischung, ich hab das Kerosin mit dem neuen Kraftbier gestreckt, sie wissen schon: ´Schwerkraft´. Das hält uns oben. Allerdings sollten wir die Last im Rumpf nach rechts verteilen…“
Die Assistentin mit Hund nahm an meiner Seite Platz. Der Engel lag ruhig auf ihrem Dekollete. Die korrekte Sitzordnung war wieder hergestellt. Alles würde gut werden.
„Fliegt sich wie eine MiG“, brummte ich.
„Ich heiße übrigens Marissa“, sagte die Assistentin und griff nach meinem Knie.
„Gibt es etwas, das sie mir sagen wollen?“, fragte ich. Dann setzte ich zum Sturzflug an. Die Insel, ein winziges Eiland im Blau des Ozeans, wurde schnell immer größer. Der Professor rollte die klugen Augen. Der Hund stellte die Ohren auf. Der Fahrtwind heulte um uns wie ein Hurrikan. Das Flugzeug bebte bis in die letzte Niete. Der Zeiger am Höhenmesser kreiselte wie ein Mixer. Irgendwo zerplatzten durch den Druckabfall Schwimmwesten. Der Faden am dritten Knopf der Bluse riss.
Knapp über dem Boden zog ich den Vogel hoch.
Der Tower meldete sich: „B-25 mit Kurs auf Tulu, haben Sie ein Problem?“
„Wovon sprechen Sie?“ fragte ich.
„Ihr Flugzeug hat die Form einer Kaulquappe…“
Ich stellte den Funk ab und drückte die Schnauze auf die Piste. Es gab einen Schlag, ein kurzes Zittern, ein helles jungfräuliches Singen der zweiten, heilen Tragfläche, dass schließlich in einem dumpfen „Uuuuuuung“ ausklang. Dann war alles still.
Als die Feuerwehr kam, kletterten wir bereits aus dem Wrack. Der Professor war heil. Die Formel war gerettet.
„Routinesache“, meinte ich noch einmal achselzuckend, als der Feuerwehrhauptmann seine Wasserspritze wieder einpackte. Marissa führte den Hund auf der Piste Gassi. Er leckte ihr die Hände. Sie waren Freunde geworden. So etwas schweißt zusammen.
„Lieben Sie Hunde?“, fragte mich Marissa als wir zum Hangar gingen und hakte sich bei mir unter. Wir haben die Töle adoptiert. Wie gesagt, so etwas schweißt eben zusammen.

© Klaus Papula, 13. März 2019

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