Unser aller Bier

Auf meinem Weg zur Klapsmühle traf ich mitten auf der Straße ein Bier.
„Grüß dich, Bier!“, sagte ich.
„Grüß dich, Michael!“, antwortete das Bier. „Fang mich, wenn du kannst!“
„Na, Servus!“, rief ich, „dazu komm ich jetzt wie die Jungfrau zum Pils, aber es sei!“
Das Bier sprintete los. Zu meinem Erstaunen war es pfeilschnell. Ich hechelte schäumend hinterher. Das Bier merkte rasch, dass ich ihm kaum folgen konnte.
„Biere haben kurze Beine!“ rief es. „Gilt für andre, nicht für meine.“
Wir liefen bis nach Niederösterreich, in die schöne Stadt St. Pölten, wo im Rah­men einer feierlichen Veranstaltung im Landhaus Herr Landbauer Herrn Gaba­lier gerade ein goldenes Liederbuch verlieh. Das Bier rannte hinauf auf die Gale­rie und ließ von oben ein bisschen etwas von sich auf Herrn Gabalier hinunter­tröpfeln.
Herr Gabalier, der unten gerade sagen wollte: „Ich fühle mich geehrt“, sagte stattdessen: „Ich fühle mich angepisst.“
Oben auf der Galerie fing das Bier zu lachen an. Es sang:
„Du bist kein Kavalier, bist nur ein Gabalier, und ich bin jetzt dein Bier und du verdienst mich eh.“
Herr Landbauer schickte einen Trupp Gudenusreiter hinauf auf die Galerie, um für Ordnung zu sorgen, aber das Bier entwischte ihnen, weil es viel zu schnell war für Pferde, die das Innenministerium zuvor ausgemustert hatte.
Ich nahm die Verfolgung des Bieres wieder auf. Wir liefen nach Oberösterreich. Ich keuchte beim Rennen.
Das Bier spottete: „Du sputest dich, wenn ich schon trödel, bist schlapper als ein Kaspressknödel!“
Wir ereichten die schöne Stadt Braunau, in der Herr Schilcher soeben sein ferti­ges Rattengedicht in die Redaktion gebracht hatte. Gerade, als die Sekretärinnen es spontan mit verteilten Rollen vorlesen wollten, weil es ihnen so gut gefiel, schwappte das Bier über die einzige Kopie, die Herr Schilcher besaß, und ver­wischte die braune Tinte so stark, dass man nichts mehr entziffern konnte.
Herr Schilcher, der gerade sagen wollte: „Ich fühle mich geehrt“, sagte stattdes­sen: „Ich fühle mich verratzt.“
Das Bier scherzte: „Du bist der Dichter Schilcher und trinkst nun keine Milch mehr, denn ich bin nun dein Bier, mich trinkst du jetzt und hier.“
Herrn Schilcher war aber der Durst vergangen. Er musste das verloren gegangene Gedicht unter Zeitdruck aus dem Gedächtnis noch einmal aufschreiben und da­bei wurde es leider nur noch halb so gut wie vorher. Gedruckt wurde es trotzdem.
Die Sekretärinnen riefen bei der örtlichen Brauerei an und verständigten den Bierfänger und er schirrte die Rösser an, aber das Bier entwischte dem Fänger, weil es viel zu schnell war für die Brauereigäule, die das Innenministerium zuvor ausgemustert hatte.
Obwohl ich immer noch außer Atem war, rannte ich sofort wieder hinter dem Bier her. Wir blieben diesmal in Oberösterreich und erreichten die schöne Lan­deshauptstadt Linz. Herr Wiesinger wurde gerade unter dem feierlichen Gezupfe einer Maultrommelgruppe in den Landeskulturrat aufgenommen. Als er sich er­hob, um vom Landeshauptmannstellvertreter den blausamtenen Ernennungs­bommel ins linke Ohr gesteckt zu bekommen (damit er danach nur noch auf dem rechten Ohr etwas hörte), sah man, dass auf der Sitzfläche seines Stuhls ein Kreuz prangte, das an seinen vier Enden merkwürdige, rechtwinkelig abstehende Verlängerungen aufwies, die an gestreckte Spulwürmer erinnerten. Das Bier schwappte von hinten in Herrn Wiesingers Schuhe.
Herr Wiesinger, der gerade sagen wollte: „Ich fühle mich geehrt“, sagte stattdes­sen: „Ich fühle mich geflutet.“
„Ruckedigu“, witzelte das Bier. „Ruckedigu, Bier ist im Schuh.“
Der Landeshauptmannstellvertreter schickte eine Schwadron Pferdedrohnen los, die das Bier dingfest machen sollten. Das Bier entwischte ihnen aber, weil die Pferde, die zuvor vom Innenministerium ausgemustert waren, viel zu schwer für die zierlichen Drohnen waren und gar nicht erst vom Boden abhoben.
Ich wollte mich gerade wieder an die Verfolgung des Bieres machen, als mich in einem Augenblick der Unachtsamkeit zwei Glatzköpfe überwältigten, die die dun­kelblauen Trachtenuniformen der Bürgerwehr trugen. Sie eskortierten mich in die Klapsmühle nach Niedernhardt, was mir eigentlich entgegenkam, weil ich endlich einmal verschnaufen wollte.
Der leitende Irrenarzt, dem man mich vorführte, hielt mir ein Bündel Formulare hin.
„Ich unterschreibe alles“, sagte ich zu ihm. „Wenn ihr mir einen letzten Gefallen erweist.“
Der Irrenarzt nickte und blickte mich gütig an. „Wir geben unser Bestes.“
„Dieses Bier“, rief ich. „Ihr müsst es endlich trinken! Es ist unser aller Bier!“

Michael, 18. Mai 2019

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