Die Libelle

Heute stand er erst gegen 13.00 Uhr auf. Der gestrige Abend hatte länger gedauert, nach vier Bier auf einen 23 Jahren alten Rum aus Jamaica namens Extreme No. 3 umzusteigen, der sich im Übrigen in einer Flasche mit einem Bild, das nach Abenteuer roch, befand, war vor wenigen Stunden die absolut sinnvolle Entscheidung, fühlte sich jetzt aber trotzdem nicht mehr so richtig an. Egal, er musste als erstes Duschen und nichts bot sich dafür mehr an, als draußen die Solardusche zu benutzen, um die letzten warmen Sommertage noch auszukosten. Sein Kopf wurde etwas klarer und er nahm das Handtuch. Beim Abtrocknen entdeckte er im Garten eine Libelle. Zuerst beachtete er sie nicht, bis sie zu ihm näher heranflog. Etwas ungewöhnlich für eine Libelle, so sein erster Gedanke. Er bewegte sich nun zwei Schritte nach rechts und siehe da, das Vieh tauchte schon wieder vor seinen Augen auf. Drei Schritte schnell nach vorne, die Libelle surrte bei seiner rechten Hand. Da diese sicherlich stechen könnten, schließlich wurden sie früher unter anderem Teufelsnadeln und Augenstecher genannt, fing er mit den Händen im schnellerem Tempo zu fuchteln an. Die Libelle überstand die Angriffe unbeschadet, wobei ihr jetzt an den Tag gelegtes Verhalten als durchaus aggressiv zu bezeichnen war. Sie flog nun wildsurrend in Richtung seines linken Auges, was ihn verständlicherweise vollends aus der Fassung brachte. Er rannte wild gestikulierend quer durch den Garten, während die Libelle an diesem Spiel immer mehr Gefallen fand. Manchmal klatschte er dabei in die Hände, ohne auch nur den Hauch einer Chance, die Libelle zu erlegen. Als sie zum Abschluss dreimal über seinem Kopf kreiste, etwas höher als seine Hände reichen konnten, begrüßte ihn gerade seine um zwei Jahre ältere Nachbarin. Normalerweise war diese eher kurz angebunden, diesmal aber durchaus am Gespräch interessiert. Die Frage, was er denn im Garten so aufgeregt machen würde, versuchte er bestmöglich zu beantworten. Sie klärte ihn schnell auf, dass Libellen grundsätzlich nicht stechen würden, aber selbst sieben Stiche einen Menschen nicht wie von ihm befürchtet töten könnten. Die Wahrnehmung eines Libellenstichs wäre eher die Herausforderung, da kaum spürbar. Wo er sich nun im Garten der körperlichen Ertüchtigung unfreiwillig hingeben hätte, wäre er sicherlich hungrig, meinte die Nachbarin zu seiner Überraschung. Sie hätte ein unglaublich würziges Gulasch zubereitet und dazu gäbe es ein obergäriges Bier aus dem Sauerland. Da konnte er beim besten Willen nicht nein sagen. „Ach ja, umziehen müssen Sie sich ja auch nicht.“, meinte zwinkernd die Nachbarin. Er dachte noch kurz, warum er denn mit dem gelben Handtuch um seine Hüften bekleidet kommen sollte, als sich sein Blick nach unten richtete. Nach mehrmaligen Kopfdrehen sah er das Handtuch zwischen dem Hochbeet und dem Apfelbaum liegen, wohl verloren beim Versuch der Libelle zu entkommen. Diese saß nun entspannt auf einem Blatt und schien fast vor Schadenfreude zu kichern. Er genoss jedenfalls das Essen der Nachbarin und besonders auch das Bier, in welcher Bekleidung konnte leider nicht mehr eruiert werden.

Harald, 31. August 2019

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