Der ehemalige Versicherungs- und Staubsaugervertreter Eustachius Kuttelwascher wurde eines Morgens halbnackt in verwahrlostem und verwirrtem Zustand auf dem Parkplatz des Experimentellen Zerebralklinikums Großhirnen aufgegriffen und zur medizinischen Erstversorgung ins Gebäudeinnere geschafft. Kuttelwascher durchlief zunächst das routinemäßige allgemeinmedizinische Standardprogramm, das auch Hausärzte anwenden, wenn in ihren Praxen nicht ansprechbare Vagabunden abgeliefert werden. Unmittelbar danach wurde Kuttelwascher einem Vollbad in einer Reinigungslösung unterzogen und mittels einer Traubenzuckerinfusion schließlich wieder in einen Zustand versetzt, der eine Kommunikation mit ihm ermöglichte. Weil er nun schon einmal da sei, eröffnete man ihm, würde man ihn gern auch neurologisch untersuchen. Die ganzen teuren Apparate, über die das Klinikum Großhirnen verfügte, spielten alle Stücke und müssten auch entsprechend eingesetzt werden, damit sie sich rechneten. Kuttelwascher gab sein Einverständnis und wurde daraufhin der zerebral-investigativen Untersuchungsagenda unterworfen, für die das Klinikum berühmt war. Das Ergebnis war so außergewöhnlich, dass Kuttelwascher nach Auswertung aller elektronischen Bilder und Aufzeichnungen sofort dem Klinikvorstand Professor Soßenbinder vorgeführt wurde. „Herr Kuttelwascher“, begann Soßenbinder, als Kuttelwascher in seinem Büro vor ihm saß, „Ich muss Ihnen etwas ganz Erstaunliches eröffnen.“ „Ja, was denn?“, fragte Kuttelwascher nur mäßig interessiert. „Ich zeige es Ihnen“, sagte der Professor und schaltete einen Beamer ein, der ein tomografisches 3D-Bild eines Kopfes an die Wand warf. „Das ist Ihr Kopf“, erläuterte Soßenbinder und fuhr mit einem Zeigestock einen markanten Bereich ab. „Sie haben überhaupt kein Gehirn, sehen Sie? Ihr Kopf ist leer.“ Kuttelwascher kratzte sich am Kinn, ehe er antwortete. „Das überrascht mich nicht“, sagte er. „Seit Jahren schon fühle ich mich ungeheuer hohl in meinem Oberstübchen.“ „Die gute Nachricht ist“, ergriff Professor Soßenbinder wieder das Wort, „dass wir dem abhelfen können.“ „Ja?“, sagte Kuttelwascher ohne rechte Begeisterung. „Wie denn?“ „Es ist ein revolutionäres, von mir entwickeltes Verfahren, das bis jetzt noch nie eingesetzt wurde“, erläuterte der Professor. „Dabei ist es ganz einfach. Wir bohren ein kleines Loch in ihren Kopf und füllen den Hohlraum bis oben hin mit Bier.“ „Meinetwegen“, stimmte Kuttelwascher zu. „Wenn es nicht wehtut.“ „Keineswegs“, versicherte Soßenbinder und hielt Wort. Nach dem Eingriff und der Flutung seines Kopfes mit bayerischem Hellen fühlte Kuttelwascher sich großartig, als er in seinem Zimmer aus der Narkose erwachte. Er dankte Professor Soßenbinder überschwänglich, als dieser zur Visite erschien. Er fühle sich wie neu geboren. Als das kleine Loch in Kuttelwaschers Kopf einige Wochen später ohne Komplikationen zugewachsen war, stand seiner Entlassung nichts mehr im Weg. „Ich werde ein neues Leben anfangen“, sagte er zu Professor Soßenbinder, „und nie wieder Versicherungen und Staubsauger verkaufen.“ „Das freut mich“, erwiderte Soßenbinder und schüttelte ihm herzlich die Hand. „Und was werden Sie tun?“ „Ich fühle mich zu Höherem berufen“, rief Kuttelwascher. „Ich gehe in die Politik.“ Er setzte diesen Vorsatz sogleich in die Tat um, indem er der von ihm favorisierten Partei beitrat, sich als Redner meldete und schon bald im Rahmen von Wahlveranstaltungen durch die Bierzelte tourte. Das Bier in seinem Kopf erwies sich dafür als ideal. Kuttelwascher traf, wenn er das Wort ergriff, mit seinem Tonfall exakt den Nerv des Volkes und entpuppte sich als der Trinkfesteste von allen, weil ihm das Bier, das er konsumierte, ja nicht mehr zusätzlich zu Kopf steigen konnte, da dort schon alles voll war mit Gerstensaft. Kuttelwascher war nicht aufzuhalten. Ein dreiviertel Jahr später war er bereits stellvertretender bayerischer Ministerpräsident und galt bald als herausragender Repräsentant des bayerischen Wesens an sich. Sein kometenhafter Aufstieg rief alsbald seine innerparteilichen Rivalen auf den Plan. Sie schmiedeten ein Komplott, mit dessen Hilfe sie Kuttelwascher weg von ihren Futtertrögen auf einen Nebenschauplatz locken wollten. Sie schlugen Kuttelwascher als Kandidaten für das neu zu besetzende Präsidentenamt in der Europäischen Kommission vor. Obwohl Kuttelwascher abwinkte und erklärte, dass er sich allein dem Bayerischen verpflichtet fühlte, ließen sie nicht locker. In seiner Not nahm Kuttelwascher abermals Kontakt zu Professor Soßenbinder vom Zerebralklinikum Großhirnen auf. „Dem glatten europäischen Parkett fühle ich mich nicht gewachsen“, klagte Kuttelwascher, als er dem Professor gegenüber saß. „Kein Problem“, erwiderte der Professor. „Wir werden Sie noch einmal operieren. Vertrauen Sie mir.“ Kuttelwascher, der keine andere Wahl hatte, fügte sich in sein Schicksal. Auch die erneute Operation verlief völlig glatt. „Es geht mir ausgezeichnet“, sagte Kuttelwascher zum Professor bei der ersten Visite nach dem Eingriff. „Was haben Sie mit mir gemacht?“ „Wir haben“, erläuterte Soßenbinder, „das bayerische Helle bis auf einen kleinen Bodensatz wieder aus Ihrem Kopf herausgesaugt und es durch belgische und französische Biere ersetzt, damit Sie gut gerüstet sind für Brüssel und für Straßbourg.“ Wenige Wochen später wurde Kuttelwascher mit überwältigender Mehrheit zum neuen Präsidenten der Europäischen Kommission gewählt. Er wusste, dass er auf dem Gipfel seiner politischen Macht angelangt war. Das Biergemisch in seinem Kopf verlieh ihm soviel Weisheit, dass er nicht vergessen wollte, wo er hergekommen war und wem er seinen märchenhaften Aufstieg zu verdanken hatte. Deshalb benannte er in seiner Kommission jeweils einen eigenen Kommissar für Versicherungsangelegenheiten und einen weiteren für Staubsaugerfragen. Das ebenfalls neu geschaffene Bierressort übernahm er persönlich und füllte es mit großer Leidenschaft aus. Wenn seine Kritiker ihm später manchmal vorwarfen, dass er ja nichts anderes im Kopf hätte als sein Bier, dann lächelte er still und nahm es nicht als Tadel, sondern als höchstes Lob.
Michael, 14. September 2019