Die Bierwand

Pankraz Gerstenmayer, der sich als mitteleuropäischer Bierpapst einen Namen gemacht hatte, nahm als erster an dem neuen Bierquiz teil, das eine private Fern­sehanstalt zur besten Sendezeit am Samstagabend ausstrahlte. Nach der Einlei­tung fragte ihn der Moderator im Studio, ob er bereit sei für die große Bierwand. Gerstenmayer, der sich im Rampenlicht sichtlich wohlfühlte, erwiderte, dass er allzeit bereit sei, wenn es ums Bier ginge. Der Moderator erläuterte dem Publi­kum die Regeln des neuen Quizspiels. Der Kandidat müsse mit verbundenen Augen aus den 1000 Flaschen in der Bierwand nacheinander drei auswählen, von denen es Brauerei und Sorte zu erraten gelte. Das sei überhaupt kein Problem für ihn, tönte Gerstenmayer, er erkenne jedes Bier im Schlaf. Eine Assistentin legte ihm eine Augenbinde an, ergriff seine Rechte und führte ihn an die Wand. Ger­stenmayer ertastete die erste Flasche und übergab sie der Assistentin, die sie für ihn öffnete und ihm einschenkte. „Ein heiteres Bier“, dozierte er nach dem ersten Riechkontakt und nahm eine Probe, die er ostentativ durch den gesamten Hohl­raum seines Mundes wandern ließ, ehe er sie schluckte. „Eine Hommage an das Mediterrane. Vorne ein Hauch von spät geernteten Wildpomeranzen der Amalfi­küste, die die Zungenspitze beben lassen, bis die verführerische Note von Ligus­terheckenblättern vom Monte San Giorgio aus dem Tessin im Duett mit dem Endmoränenhopfen aus Solferino wohlig die Mundhöhle flutet. Im Abgang mild wie der Achselschweiß etruskischer Jungfrauen. Ich hege keinen Zweifel, es handelt sich um die Sorte Risotto Motoguzzi von der Bunga Bunga Brauerei in San Remo.“ Der Moderator tippte das Ergebnis in seinen Monitor ein. Gersten­mayer griff zur zweiten Flasche. „Phantastisch im Antrunk!“, schwärmte er, nach­dem er das nächste Bier probiert hatte. „Vulkanhopfen aus der Eifel, von der Fel­sengruppe Rummerschlegel aus der Sötenicher Kalkmulde, trifft gallig auf die Gaumenplatte, bitter wie der Abschiedsbrief einer entschwundenen Geliebten. Im Abgang das malzige Rollen der Frankfurter Flughafengerste am Zäpfchen. Ich erkenne die Absturzperle von der Dudeldorfer Hühneraugenbrauerei.“ Der Mo­derator hielt Gerstenmayers Ergebnis wiederum auf seinem Monitor fest. Der Bierpapst setzte zur dritten und letzten Runde an. „Tres chique!“, flötete er be­geistert. „Dieser Hautgout wilder Pferdeäpfel aus der Camargue im ersten Ein­druck schon auf den Papillen. Im Rezens kulminiert die Vereiningung von Gers­tenmalz aus Vichy-Vache und Wasser aus der Grotte Massabielle in Lourdes ek­statisch in einem Höhepunkt, der einem amourösen Tête-à-tête mit der jungen Brigitte Bardot in keiner Weise nachsteht. Im Abgang mild humid von Escargot und Grenouille. Wir haben hier vor uns ein Biére Fauteuil-Chaiselongue von der Hugenottenbrauerei in Châteaubriant.“ Der Moderator loggte Gerstenmayers Tipp wiederum ein. Dann bat er das Publikum um einen kräftigen Applaus für den wackeren Rater, ehe es nach einer kurzen Werbeunterbrechung an die Auf­lösung ging. Die Assistentin befreite Gerstenmayer, der inzwischen auf der Couch an der Seite des Moderators Platz genommen hatte, endlich von der Augenbinde. Der Moderator fragte den Bierpapst, ob er glaube, dass er alle Biersorten richtig erraten hätte. Er glaube es nicht, gab Gerstenmayer zurück, er wisse es. Nach einem Trommelwirbel übergab die Assistentin dem Moderator einen Umschlag. „Hier haben wir das Ergebnis!“, rief der Moderator. „In wenigen Sekunden wis­sen wir Bescheid, Meine Damen und Herren, ich darf es Ihnen verkünden. Alle drei Antworten sind falsch! In allen 1000 Flaschen in der Bierwand war nämlich das selbe Bier, das köstliche Helle aus der Schlossbrauerei zu St. Größenwahn, unserem heutigen Sponsor! Applaus! Applaus!“ Pankraz Gerstenmayer suchte verzweifelt nach einem Loch im Boden, in dem er vor Scham versinken hätte können. Noch ehe er sich von der Bühne stehlen konnte, hakten sich zwei Assistentinnen bei ihm unter und eskortierten in zu einem riesigen Bierfass, in das er unter dem Jubel der Studiogäste steigen musste. „Unseren unglücklichen Verlierer“, sagte der Moderator zum Publikum, „wollen wir natürlich nicht ohne einen Denkzettel nach Hause gehen lassen!“ Er drückte Gerstenmayer mit dem Deckel in das Fass, das die Assistentinnen sogleich zunagelten. „Meine Damen und Herren! Wir werden ihn nun“, rief der Moderator, „mit einem Kran zur Decke hinaufziehen und ihn den künstlichen Wasserfall hinunterwerfen, den sie hier aufgebaut sehen!“ In diesem Augenblick fiel aufgrund einer landesweiten Netzüberlastung auch im Studio der Strom aus. Im schwachen Licht der Notbeleuchtung drängten die Zuschauer und Mitarbeiter gleichermaßen panisch zu den Ausgängen. Als Pankraz Gerstenmayer am nächsten Morgen von Bühnenarbeitern endlich aus dem Fass befreit wurde, wirkte er sehr gefasst. Er kam in einem Trappisten­kloster in der Hallertau unter, wo er von da an beharrlich schwieg. Wenn es ihn dürstete, trank er nur noch ungesüßten schwarzen Tee, immer von der selben namenlosen Sorte.

Michael, 21. September 2019

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