Als die weltberühmte Sopranistin Ludmilla Trällerowa auf der Seebühne am Klopeiner See im Rahmen einer Aufführung der Zauberflöte gerade zu den Koloraturen in der Arie Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen ansetzen wollte, erklang just jener Melodiebogen, den zu singen sie im Begriff war und der unter den Sängerinnen als besonders anspruchsvoll gilt, von einem Mobiltelefon aus dem Publikum. Als nach dem Verebben der Sequenz der Besitzer des Telefons das Gespräch annahm und sich mit „Raiffeisenbank Oberes Gailtal, Direktor Kasnudler am Apparat“ meldete, setzte Trällerowa die Führungsgewalt des Dirigenten außer Kraft und stoppte mit ausladenden Bewegungen ihrer Arme das Orchester. „Entschuldigung, bin schon fertig“, sagte Kasnudler und setzte hinzu: „Es war wichtig. Meine Buchhalterin hatte ihre Lesebrille verlegt. Bis morgen müssen wir nämlich die Bilanz fertig haben.“ Die Sängerin, die mittlerweile von der Bühne zu Kasnudlers Platz in der zweiten Reihe hinuntergestürmt war, riss ihm das Mobiltelefon aus der Hand und warf es in einem hohen Bogen in den sommerwarmen See. „Wie schön“, rief sie dann ins Publikum, „dass ich meine Koloraturen nicht mehr selber singen muss! Wie schön, dass ihr es nicht allzu zu ernst nehmt, welch ungeheure Mühe und welch immensen Aufwand es für die Orchestermusiker, die Sänger, den Dirigenten, den Regisseur, die Bühnenbildner, die Beleuchter, die Souffleuse und alle, die ich vergessen habe, bedeutet, dass ihr hier heute dieses Gesamtkunstwerk der Zauberflöte geboten bekommt. Wie schön, dass ihr euch morgen eure Mäuler zerreißen werdet über alles, was euch nicht gefallen hat, über das Bühnenbild, das den einen von euch zu modern ist, den anderen zu altmodisch und bieder, über das Orchester, das den einen von euch zu schleppend spielt oder zu verhalten, zu zaghaft, den anderen hingegen zu schnell, zu laut, zu expressiv, über mich, die ich den einen von euch meine Rolle als Königin der Nacht zu vordergründig angelegt habe, zu dominant, zu wenig auf das Gesamtgefüge achtend, während die anderen von euch sagen werden, dass mich auschließlich vom Ensemble tragen lasse, dass meine Stimme schon einmal strahlender war und dass ich meinen Zenit als Sängerin schon überschritten hätte! Wie schön das alles ist! Und wisst ihr, was wirklich am allerschönsten ist? Dass ich, die ich aus einem kleinen Dorf in der kasachischen Steppe stamme, es hierher zu euch geschafft habe, als Königin der Nacht, an euren, wie sagt man, bacherlwarmen See. In meiner Kindheit hatten wir zu Hause ein Kofferradio, den größten Schatz der Familie. Wenn einmal in der Woche eine Oper gesendet wurde, dann rief mein Großvater, wenn eine wie ich im Radio sang, dass man ihr doch etwas zu essen geben solle, denn wer so schreie, müsse entsetzlichen Hunger leiden! Er wusste es nicht besser! Aber ihr alle und auch Sie, Direktor Kasnudler, ihr wisst es besser und schert euch dennoch keinen Deut um meine Kunst! Ich habe – wie sagt man es auf Deutsch – die Schnauze voll von euch! Ich werde nicht mehr für euch singen und ziehe mich jetzt ins Hotel zurück, zu meiner kleinen Tochter, die dort auf mich wartet. Ihr singe ich ein Schlaflied vor, ganz leise, bis sie einnickt, denn ich bin ihre gute Königin der Nacht. Ich freue mich schon auf die Stille, die dann eintritt! Auf Nimmerwiedersehen!“ Trällerowa hatte den Rand der Zuschauertribüne erreicht und verschwand im Dunkel der Nacht. Im Publikum hob ein empörtes Geraune und Getuschel an, das am Ende an das Gezische von giftigen Schlangen erinnerte. Schließlich erhob sich der Direktor Kasnudler, drehte sich herum und richtete das Wort an die Zuschauer. „Im nächsten Jahr, liebe Kärntnerinnen und Kärntner, laden wir uns wieder die Quietschentaler Furzenjäger ein an unseren schönen Klopeiner See!“ Der Rest, von dem was er noch sagte, ging im Jubel und im tosenden Applaus der Menge unter.
Michael, 11. Oktober 2019