Der schwarze Wenzel

Der schwarze Wenzel war ein wilder Hund, von Anfang an und Zeit seines Lebens, oder vielleicht war er sogar etwas noch Wilderes, ein Wolf, ein wilder Wolf, ein einsamer, wilder Wolf. Er wurde in einer Nacht geboren, in einer unheimli­chen Nacht, am Fuß der Anden, als Sohn böhmischer Einwanderer, in einem gottverlassenen Dorf, in einer Hütte, während draußen ein Wirbelsturm tobte, der sich erst legte, nachdem der schwarze Wenzel endgültig das Licht der Welt erblickt hatte, in Gestalt einer Petroleumlampe, die gleich darauf für immer er­losch. In seiner Kindheit hütetete er in der Pampa in Argentinien Mondkälber, die im Schutz der Dunkelheit auf pechschwarzen Weiden grasten und dabei lang­sam von Neumondkälbern zu Vollmondkälbern heranwuchsen, ehe sie geschlach­tet, zerlegt und in Containerschiffen nach Europa transportiert wurden. Als der schwarze Wenzel diese Wahrheit begriff, war seine Kindheit zu Ende. Er besorgte sich eine uralte Harley Davidson bei einem Straßenhändler in Mendoza und fuhr mit ihr in weniger als zwei Nächten wie der Teufel an die Atlantikküste. Dort nahm er das schwere Motorrad auf seine Schultern und schwamm über den wei­ten Ozean hinüber nach Afrika. Im Kongo räumte der schwarze Wenzel in einer einzigen Nacht eine Diamantenmine leer und verschenkte seine Beute in den Slums von Matadi, in dem Wissen, dass die Wohltaten, die er damit beging, nur von kurzer Dauer sein würden, weil der Reichtum binnen kürzester Zeit wieder zu denen zurückfand, die ohnehin bereits alles hatten. Als nächstes fuhr er mit seiner Harley in mehreren Nächten nach Norden durch den ganzen riesigen Kon­tinent, durch die Dschungel und die Wüste, durch Marokko, bis an die Mittel­meerküste, nach Ceuta, der spanischen Exklave, wo er in der Geisterstunde mit einem Winkelschleifer an mehreren Stellen den Grenzzaun durchschnitt. Ihm war klar, dass nur wenige Schutzsuchende es auf die andere Seite der Grenze schaffen würden, ehe der Zaun noch weiter verstärkt wieder instand gesetzt wür­de. Wieder schulterte er sein Motorrad und schwamm in einer weiteren Nacht die kurze Strecke hinüber nach Spanien. Er hielt auch dort nicht inne, sondern brauste in einer waghalsigen Nacht- und Nebelaktion, bei der er sämtliche Tem­polimits missachtete, die es überhaupt gab, weiter in Richtung Norden, über die Pyrenäen, über die Alpen. Schließlich erreichte er Wien, wo er zu nachtschlafe­nder Zeit in die Staatsdruckerei eindrang und eine große Menge Rohlinge für Per­sonalausweise erbeutete, die er heimlich unter denen verteilte, die oft jahrelang darauf warteten, dass über ihr Bleiberecht entschieden wurde. Dem schwarzen Wenzel war bewusst, dass nur wenige bei Ausweiskontrollen mit den gefälschten Karten durchkommen würden. Auch an diesem Ort hielt es ihn nicht. Er fuhr mit seiner Harley weiter nach Norden, nach Skandinavien, nach Schweden, nach Stockholm. Als er vor dem Reichstag sein schrottreifes Motorrad abstellte, am helllichten Tag, und die Wut und die Verzweiflung in den Augen einer Sechzehn­jährigen bemerkte, die dort mit ihrem selbstgemalten Schild protestierte, bekam er es zum ersten Mal in seinem Leben mit der Angst zu tun, nein, nicht vor der Sechzehnjährigen fürchtete er sich, sondern vor dem, was ihnen und uns allen noch bevorstand.

Michael, 19. Oktober 2019

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