Er schlug die Seite 125 um 21.00 Uhr auf. Kaum ein Literat, der etwas auf sich hält, würde heutzutage noch tagsüber lesen. Im Raum ein Räuspern und Husten. Große Aufregung. Schließlich kam nicht alle Tage ein Bestsellerautor nach Obermuffenbeck. Vom Bürgermeister bis zur Dorflehrerin waren sie alle anwesend, samt Gattin bzw. Gatte versteht sich. Der größte Unternehmer im Dorf äußerte sich gleich zu Beginn: „Wenn du von vorne lesen anfängst, dann kommen wir besser mit.“. „Scheiß Verlegerin“, diese hatte die Lesereise organisiert, dachte er sich nur und antworte „Lassen Sie sich überraschen, sie werden es verstehen.“. Weil es jetzt so gut passte, schlug er nun doch einige Seiten zurück, sehr zum Wohlwollen des Unternehmers: „Geht doch!“. Die Begleiterin, die ihm der Verlag aufs Auge gedrückt hatte, gestikulierte ihn seine Richtung, um ein Vorblättern zu erreichen, aber zu spät. Er hatte bereits begonnen: „In diesem kleinen, beschissenen Ort, hatte also der Bürgermeister tatsächlich neben der Kirche sich selbst ein Denkmal gesetzt und grinste nun direkt neben dem Petrus in Richtung Marktplatz.“. Er kannte Obermuffenbeck nicht wirklich, war er doch erst um 20.10 Uhr bei Anbruch der Dunkelheit angekommen. Dieser erste Satz hatte beim Bürgermeister samt Gattin Bestürzung ausgelöst. Sollte sich hier der Bestsellerautor über sie lustig machen, wo doch die Statue von wirklich allen – zur Wiederholung wirklich allen – geschätzt wird und selbst der Bürgermeister des Nachbardorfes über eine solche nachdenkt. „Im Obermuffenbeck steht der Bürgermeister über den Dingen“, dachte sich dieser und beruhigte sich, leider nur bis zu den nächsten Ausführungen. Von Freunderlwirtschaft, über Puffbesuche und nur sehr gute Noten für die ungeratenen Kinder des Bürgermeisters war die Rede, bei letzterem kam auch die Lehrerin nicht gerade gut weg. Als in weniger als fünf Minuten dann noch Inzucht, perverse Spiele mit der Dorfwirtin und die alkoholkranke Landjugend als Inhalt der Lesung vorkamen, war die illustre Zuhörerschaft schon in heller Aufregung. Eigentlich hätte er nun vorblättern können, machte er aber nicht, schließlich hatte er nicht das Gefühlt, das es bereits am Schönsten war. Das Verhältnis des Pfarrers mit der Gattin des Bürgermeisters wurde auf den nächsten drei Seiten detailliert geschildert, wobei nach den ersten fünf Sätzen eine deutliche Änderung der Gesichtsfarbe der Bürgermeistergattin stattfand. Sie hatte so etwas wie eine Schnappatmung und konnte dann aber doch „Skandal, eine Frechheit. Schämen Sie sich!“ hinausschmettern. Der Bürgermeister sah das ähnlich, auch die Dorflehrerin war über alle Maßen erbost, schien sie doch nicht die einzige Geliebte des Pfarrers zu sein. Tumultartig verließen sie den Raum, einer versuchte noch sein Bier Richtung Autor zu schütten, was aber misslang. Es war nun 21.18 Uhr und im Publikum saß nur mehr der Pfarrer. Nachdenklich, meinte aber, die Wahrheit wäre wohl zumutbar und hätte doch einen läuternden Charakter. Er sollte doch fortsetzen, was er gerne machte. Er blätterte nun auf Seite 125, die Seiten zuvor waren lediglich Illustrationen ohne Text und befasste sich mit dem Herbst, in seiner schönsten Facette, in einem kleinen Bergdorf, in dem er aufgewachsen ist, berichtete von einer Dorflehrerin, die ihn für Weltliteratur begeistern konnte, vom Pfarrer, der für ihn einen Platz am Gymnasium organisierte und von einer Statue, die sie ihm zu Ehren errichtet haben und auf die er auch klammheimlich etwas stolz ist.
Harald, 1. November 2019